Kronhardt
als in der alten. Die ganz harten Proletarier wie Achim-das-Tier oder Harald fehlten wohl, und die Klasse stand auch ohne Murren auf, und niemand schrieb vor der Stunde noch Hausaufgaben ab. Doch die Jungs hatten hier ebenso ein Auge dafür, wenn ein Mädchen die Haare offen trug oder ein Büstenhalter durch die Bluse schimmerte. Und auch hier legten es die Mädchen natürlich auf dieses Auge an. Und einen Primus wie Konrad Leysieffer gab es überall. So erschien der BeschluÃ, Willem zu Schlosser in die Klasse zu versetzen, wie ein Glücksfall. Und daà obendrein nun auch noch Gisela dabei war, fanden die Jungs natürlich spannend.
In den Pausen standen sie um den Elefanten. Manchmal kam Gisela zu ihnen, und sie plauderten und rauchten. Die Jungs erfuhren, daà ihr Vater Soldat war. Sie hatte ständig Streit mit ihm, und ihre Mutter hatte aufgegeben, ihr gegen den Vater zu helfen. Die Mutter nahm Pillen, trank Alkohol und erhielt sich in ihrem Rausch eine andere Welt. Gisela fand das zum Kotzen. Und auch das Alte Gymnasium fand sie zum Kotzen. Diesen Klüngel aus reichem Haus, und dazu noch solche Linken wie Jan-Carl oder Frederike, die selbstgefällig und abgehoben waren wie die anderen. Im Grunde fand Gisela die ganze Bundesrepublik zum Kotzen, und bald offenbarte sie sich den Jungs und benutzte Wörter wie Volksherrschaft oder Kollektiv. Wenn die Jungs da nachhakten, drehte Gisela es so, als steckte ein tieferer Sinn dahinter, der nur über sie zugänglich war. Und wenn die Jungs damit nicht zufrieden waren, legte Gisela richtig los; als wollte sie diesen Sinn in ihre Köpfe hämmern, und sie redete sich in einen Rausch und kriegte es hin, noch jedes Thema politisch zu machen. Werder gegen HSV , die Soldatenmentalität ihres Vaters, die Dummheit und Arroganz ihrer Mitschüler, und zuletzt bündelten sich all ihre Gedanken auf immer derselben Ebene. Sie machte den Staat zum Instrument einer kapitalistischen Sippe, die die Politik für Gesetze, Bürokratien und Mechanismen benutzte, um das Volk unselbständig zu halten. In Giselas Staat waren selbständiges Denken und Handeln nicht erwünscht, der Raum für Lernen und Persönlichkeitsentwicklung war angeordnet und wurde kontrolliert. Der Sinn von Arbeit und Aufschwung bestand vor allem darin, einen Volksglauben vom Glück aufrechtzuerhalten und zugleich mit der sozialen Marktwirtschaft dennoch nur die Profite aus dem Volk zu leiern, um diesen Zustand im Staat noch für die Kindeskinder der Kapitalsippe zu manifestieren.
Und während Gisela in der Bundesrepublik den manipulierten Staat verantwortlich machte für den menschlichen Verfall, konnte sie auf der anderen Deutschlandseite eine Lösung für dieses Problem erkennen. Für sie repräsentierte der Staat dort eine Volksgemeinschaft, die sich ihre Werte und ihren Sinn aus dem Kollektiv heraus erschuf. Die Volksmasse diente nicht dazu, einem übergeordneten Instrument den Profit aus Verblendung und Machtausbau zu liefern, sondern ihre Leistung schloà sich zu einer Gemeinschaft, in der alle gleich waren und jeder nach seinen Kräften und Fähigkeiten auch zu Schutz und Glück des anderen beitrug.
Die Jungs nannten Giselas Ansichten verzerrt.
Gisela lächelte wohl, doch dann feuerte es auch schon wieder aus ihrem Lockenkopf, und sie entwarf Blickwinkel, aus denen heraus die Berechtigung oder Logik einer Kritik nur noch wie von den Staatsmechanismen manipuliert erschien. Und wenn die Jungs auch diese Ansichten verzerrt nannten, war das nur ein Beweis der funktionierenden Manipulation; noch wenn die Jungs glaubten, denken zu können, was sie wollten, und innerlich frei zu sein, wurden sie zuletzt bloà in diesem Glauben gehalten.
Willem und Schlosser fanden es erstaunlich, wie Gisela die Dinge immer wieder auf eine Art drehte, als stecke ein tieferer Sinn dahinter, der zuletzt nur über sie zugänglich war. Und sie fanden es auch erstaunlich, wie Gisela immer neue Energien freisetzte, sobald sie ihr widersprachen. Wie es aus ihrem Lockenkopf feuerte, wie ihr hübscher Körper unter Spannung geriet und ihr kleiner, fester Busen zitterte, während ihr Atem wie Glut erschien.
Der Spätsommer war drückend.
Sie lagen auf dem Ponton, der Ausleger stand waagerecht, die Trossen hingen schlaff; tags jagten Schwalben, und mit der Dämmerung kamen von überall Stare und sammelten sich rings um den See. Wenn die
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