Kruzifix

nehmen. Auch die Schuld von meinem Freund. Es war praktisch, ökonomisch, aber das Motiv war trotzdem die Liebe. Sie waren Liebhaber. Schwul. Verbunden durch gemeinsames Unglück. Der Adolf hatte Prostatakrebs. Es war eine sekundäre Erkrankung, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Nein. Oder doch: Was war dann die primäre Erkrankung?«
    »Aids.«
    »Aids?«
    »Ja, Aids. Ich hab mit der Frau Dr.   Graf gesprochen, Sie kennen Sie ja …«
    Willibald Rössle warf mir schon wieder einen zornigen Blick zu.
    »Ich war ja inzwischen fast Stammgast bei ihr. Sie hat mir gesagt, dass der Prostatakrebs eine indirekte Folge von Aids war. Aber sie wollten keinen Zirkus im Krankenhaus haben, und die Aids-Diagnose blieb unerwähnt in den offiziellen Papieren. In dem Zustand konnte er keinen mehr anstecken, wenigstens nicht auf die übliche Art, und sie haben ihn sowieso mit Hygienehandschuhen angefasst, wie sie es routinemäßig tun, und er lag isoliert in seinem Einzelzimmer. Sterbezimmer.«
    Wir waren oben am Kamm angekommen. Blickten nach Westen über das weite Land, auf die Autobahn, die sich an Kempten vorbeizog, und nach Osten zum Domizil von Ludwig II . und die ganze Bergkette bis zum Grünten hinüber. Weite. Sonne. Schönheit. Frieden.
    »Wie kann man in einer solchen heiligen Umgebung solche schlimmen Sachen machen?!«
    Willibald Rössle schüttelte den Kopf.
    »Ja«, sagte ich, »wenn man hier raufkommt, denkt man, man ist im Paradies. Aber leider färbt die Landschaft nicht auf die Leute ab.«
    »Ja, dabei wirken die Menschen hier so grundständig, so solide, gehen sonntags noch in die Kirche …«
    »Und bringen dort den Pfarrer um … Diese Kultur in Tal und in vielen Dörfern hier ist einerseits ganz modern, mit Fernseher und allem, Koedukation, Inklusion, integrative Kindergärten, Quotenfrauen in der CSU , modernes Kreuz in der alten barocken Kirche, Windsurfing, Bikinis, Bauchpiercing, Frauen rauchen, Bauern haben ihre iPods ins Ohr gestöpselt beim Heuen … und zugleich eine archaische Herde, die Mannsbilder unter sich, die Weiber eine verschworene Geheimgemeinschaft. Die Männer hassen die Schwulen, offiziell, und Aids heißt Prostatakrebs, wirklich eine archaische Herde … Apropos Herde, vor uns ist auch eine, da auf der Weide, da müssen wir jetzt durch.«
    Der Weg führte durch eine Kuhweide am Hang. Ich vermied diesen Weg, wenn ich allein war, weil ich mich nicht durch die Herde gehen traute. Aber heute war ich nicht allein, mein Stiefbruder im HERRN Willibald Rössle war neben mir, wir stiegen über den Weidenzaun, und von da an hielt ich mich hinter ihm.
    »Hallo, wo bleiben Sie denn?«
    Er schaute sich um. Die Kühe grasten und wiederkäuten in Ruhe weiter. Kühe haben vier Mägen, da gibt es eine Menge wiederzukäuen. Leider verlief der Weg mitten durch die Wiederkäuer.
    Ich sagte:
    »Wenn’s an Kühe geht, bin ich ein bisschen zurückhaltend. Ich bin ein Stadtkind. Ich weiß, wie man mit Müllautos, Ferraris und Motorrädern umgeht, aber mit Rindviechern bin ich vorsichtig. Keine Erfahrung. Und man liest ja immer wieder, dass ein paar Preußen von den Rindern umgetrampelt werden.«
    Rössle sagte:
    »Von nix kommt nix. Da sind die selber schuld. Eine Kuh trampelt nicht ohne Grund einen Menschen um, nicht einmal einen Preußen … Eine Kuh ist von Natur aus Phlegmatiker. Kühe sind gutmütig, träge, phlegmatisch. Stiere sind anders. Aber hier sind ja keine Stiere dabei. Allerdings Kälber. Da werden die Alten leicht nervös.«
    »So wie die Mütter in der Kinderklinik. Die lassen auch keinen an ihre Kleintiere ran. Seelsorge hin oder her.«
    »Ja, Schutzinstinkt. Deshalb gehen wir jetzt nicht auf dem Weg mitten durch die Herde, sonst kommen die auf falsche Gedanken. Wir machen einen großen Bogen. Sie haben dann genug Platz, und wenn sie Platz haben, sind sie gutmütig. Nur wenn sie in die Enge getrieben werden …«
    »Wie der Toni und der Adolf …«
    »Genau. Und wir gehen am Zaun entlang, dann könnten wir im Notfall, der nicht eintritt, einfach mit einem Satz drüberspringen. Sie haben ja Erfahrung«, lachte er und schaute meinen Ohrenschmuck an.
    Was ich ignorierte.
    »Außerdem«, sagte ich, »kann ich gut laufen. War Rechtsaußen beim FC Diedorf. Kleiner Fußballverein. Bei Augsburg.«
    »Kenn ich«, sagte er. »Im Schmuttertal. Aber laufen nützt Ihnen bei Kühen nichts. Kühe sind rasend schnell, denen laufen Sie nicht davon. Vielleicht auf der Aschenbahn im Stadion vom FC