Kryptum
Víctor Tavera sie beschrieben hatte. Wenn man sich an den öffentlichen Fernsprecher stellte, befand sich der französische Billardtisch direkt daneben, der Fernseher hing ganz hinten rechts an der Wand, und in der Mitte standen ein Zigarettenautomat, einer dieser Spielautomaten, die man auch einarmige Banditen nennt, und eine Jukebox, zu deren Repertoire tatsächlich
›Amor secreto‹
von Fary gehörte, wie Inspektor Gutiérrez gleich als erstes feststellte.
Unter den argwöhnischen Blicken der Stammgäste traten sie an die Theke, vor der reichlich Sägemehl, vermischt mit Erdnußschalen, Zigarettenkippen, Papierservietten und Brotkrümeln lag. Dahinter hantierte die Wirtin der Kneipe, La Tolona, eine eindrucksvolle Matrone aus Valencia. Wie von der Kommandobrücke eines Walfängers aus dirigierte sie ihre Mannschaft mitten durch die Stürme auf hoher See. Um diesen Vorposten im Niemandsland gegenüber dem Schlachthaus zu leiten, war auch eine Frau ihres Temperaments vonnöten. Hier gingen Schlachter, Viehhändler und Tagelöhner ein und aus, aber auch allerlei Gesindel, das seinen Lebtag nicht auch nur einen Finger krumm gemacht hatte.
»Abends füllt sich der Laden mit Nutten«, erklärte Gutiérrez. »Die Leute nennen die Kaschemme dann nicht mehr
Cañas
y Barro
– Zuckerrohr und Schlamm –, sondern
Coños y
Burros
– Fotzen und Esel.« Er lachte anzüglich über seinen eigenen Witz. »Der Zuckerrohrschnaps hier bringt sie jedenfalls in Form.«
David warf einen Blick auf die Zettel mit den Spezialitäten des Hauses, die an den großen Spiegel hinter der Theke geklebt waren. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er den Einfallsreichtum seiner Landsleute so geballt vor sich sah. Außer den klassischen Cocktails wie
Sol y Sombra
,
Trifásico,
Paso a nivel
oder
Bikini
konnte man so sprechende Namen lesen wie
Wonderbra, Quemabragas, Zipizape
,
España
und
Olé
…
»Was darf ’s sein, Inspektor?« wollte La Tolona wissen, während sie den Tresen energisch mit einem Lappen abwischte.
|267| »Was halten Sie von ein paar Bierchen und fritierten Garnelen?« fragte der Inspektor in die Runde.
Bealfeld und David stimmten begeistert zu. Rachel winkte ab. Der Kryptologe fragte sich, ob es ihr nicht gutging; sie war ganz blaß um die Nase. La Tolona schrie die Bestellung in die Küche und zapfte dann die Biere. Nachdem er einen großen Schluck genommen hatte, begann der Inspektor auf sie einzureden. Die Frau schüttelte mehrmals den Kopf. Gutiérrez’ Worte konnten sie nicht verstehen, denn er stand mit dem Rücken zu ihnen, wohl aber die dröhnende Antwort der Wirtin.
»Das Telefon benutzen hier viele. Davon bekomme ich nichts mit. Der Apparat steht dort hinten. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun.«
Übelgelaunt zahlte der Inspektor, biß den Kopf einer Garnele ab, spuckte ihn auf den Boden und trank sein Bier aus. Mit einem Blick auf die Uhr sagte er mürrisch:
»Man erwartet mich zur Pressekonferenz. Ich nehme an, Sie kommen mit.«
An der Tür achteten sie in der Eile kaum auf den großen Mann, der gerade hereinkam und beinahe mit David zusammengestoßen wäre. Er hatte struppige Haare und ein kantiges Gesicht mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Seine ganze Erscheinung war ungepflegt, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Er war nicht mehr der Jüngste, schien aber noch viel Lebenskraft zu besitzen. Wie er jetzt in die Kneipe trat, wich manch einer seinem Blick aus, denn man wußte, was für ein arglistiger und gefährlicher Zeitgenosse er war. Im Falle eines Falles war La Tolona die einzige, die ihn unter Kontrolle halten konnte. Aus unerfindlichen Gründen war er ihr gegenüber so fügsam wie ein kleines Kind.
Er hielt schon auf das Telefon zu, da rief La Tolona ihn von der Theke und winkte ihn zu sich.
»Gabriel!«
Als er vor ihr stand, senkte die Wirtin warnend die Stimme: »Ich an deiner Stelle würde es mir zweimal überlegen, bevor |268| ich von hier aus noch mal anrufe. Sie waren schon hier und haben nach dir gefragt.«
»Wer?«
»Inspektor Gutiérrez, ein gleichaltriger Ausländer, eine junge Frau und ein junger Mann, der in etwa so groß ist wie du, ein hübscher Bursche. Sie sahen alle wie Bullen aus. Sie sind gerade erst raus …« La Tolona hielt inne und sah ihn eindringlich an, bevor sie noch hinzufügte: »Hör mir gut zu, Gabriel. Ich weiß nicht, in was für Schwierigkeiten du wieder steckst, und es geht mich auch nichts an, solange du mich da
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