Kryptum
Band sechsmal angehört hatte, nahm er die Kopfhörer wieder ab und wandte sich zu ihnen um.
»Ich glaube, ich hab’s … Vergessen Sie die paar Sätze des Mannes«, erklärte er, »und achten Sie auf die Hintergrundgeräusche. Ich werde die Geschwindigkeit ein wenig verringern, damit sie besser zu hören sind.«
Derart verlangsamt, war am Anfang, noch bevor der anonyme Anrufer zu sprechen begann, großer Lärm zu vernehmen, von dem sich eine Frauenstimme abhob, die etwas schrie. Tavera hielt die Aufnahme an.
»
Antonio, eine Kiste kleine Flaschen!
ruft sie.«
»Eine Kneipe?« fragte der Inspektor interessiert.
»Ich glaube ja. Hören Sie mal auf die Musik.« Tavera setzte das Wiedergabegerät erneut in Gang.
»Das ist Fary!« rief Gutiérrez plötzlich. Als er Bealfelds und |264| Rachels fragende Blicke sah, erklärte er: »Das ist ein hier sehr beliebter Sänger. Das Lied trägt den Titel
›Amor secreto‹.«
Dann wandte er sich an Tavera: »Hört sich wie eine Jukebox an. Jetzt haben wir zwei Anhaltspunkte, um herauszufinden, von wo aus angerufen wurde:In der besagten Kneipe arbeitet ein Kellner, der Antonio heißt, und es gibt dort eine Jukebox mit dem Titel
›Amor secreto‹
von Fary.«
Bealfeld wollte jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen.
»Dieser Antonio könnte aber auch der Fahrer sein, der ihnen das Bier liefert. Und die Musik könnte aus dem Radio kommen oder aus dem Fernsehen, so daß man sämtliche Kneipen der Stadt mit einschließen müßte, da hier ja immer irgendein Kasten läuft.«
»Stimmt, das wäre möglich«, bemerkte Tavera. »Nichtsdestotrotz hat Inspektor Gutiérrez wahrscheinlich recht, daß es sich um eine Jukebox handelt. Auf dem Band hört man nämlich noch die Geräusche eines Zigarettenautomaten, einem von denen, die ›Ihr Tabak, vielen Dank‹ sagen. Und einen Spielautomaten, einen dieser Baby Fruits mit drei Walzen mit Erdbeeren, Äpfeln und Weintrauben. Ein sehr altes Modell, das noch Hebel hat und sehr schrill klingelt, bis zu fünfzig Dezibel. Allein mit diesem Detail kann man die Suche auf einige wenige Kneipen beschränken.«
Tavera ließ das Band nun noch langsamer laufen.
»Konzentrieren Sie sich jetzt auf dieses Geräusch zwischen den beiden Sätzen der Botschaft, zwischen
verschwunden ist
und
An Ihrer Stelle
… Haben Sie es gehört? Sie müssen sehr genau hinhören, es ist nur ganz kurz …«
Er drehte an ein paar Reglern und ließ das Band noch etwas langsamer laufen. Und tatsächlich, sie hörten ein Klacken, konnten aber nicht erkennen, was es war.
»Das sind zwei Billardkugeln, die gegeneinanderprallen. Der Billardtisch muß ganz in der Nähe der Telefonkabine stehen. Und es ist ein französischer Billardtisch:es gibt kein Geräusch, wenn die Kugeln ins Loch fallen.«
»Sonst noch was?« fragte Gutiérrez belustigt. »Vielleicht wissen |265| Sie ja auch, welche Farbe die Socken des Billardspielers hatten?«
»Tut mir leid, diese Einzelheiten kann ich Ihnen nicht liefern, wohl aber den Tag und die Stunde des Anrufs.«
»Diese Daten kennen wir schon. Aber sagen Sie mir, wie hätten Sie das bestimmen können?«
»Ganz im Hintergrund hört man einen Fernseher mit der Erkennungsmelodie von den morgendlichen Lokalnachrichten.«
»Gute Arbeit, Tavera. Wir bleiben in Kontakt.« Der Inspektor streckte ihm zum Abschied die Hand hin.
Als Rachel es ihm gleichtun wollte, fragte Tavera:
»Wollen Sie sich noch meine Aufnahmen von der Plaza Mayor anhören?«
»Natürlich«, antwortete die junge Frau.
Tavera ging zu einem großen Schrank, in dem er Hunderte von sorgfältig geordneten Bändern aufbewahrte. Rachel sah Bealfeld und David bittend an. Doch Gutiérrez nahm ihnen die Antwort ab.
»Ein andermal. Jetzt haben wir keine Zeit mehr.«
»Wie Sie wollen«, entgegnete Tavera.
Rachel schien noch zu schwanken. Doch als sie Gutiérrez’ mißtrauischen Blick auf sich ruhen spürte, schüttelte auch sie Tavera die Hand, wobei sie ihm jedoch noch etwas zuflüsterte.
»Könnten Sie auch die Tonspur eines Videobands analysieren?«
»Sicher.«
»Ich lasse es Ihnen zukommen.«
Die junge Frau konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Gutiérrez nicht wollte, daß der Geräuschesammler ihnen erzählte, was er über die Stadt wußte, all die geheimnisvollen Dinge, welche die meisten Leute nicht wahrnahmen, wohl aber jemand, der so gut trainierte Ohren hatte wie er.
|266| Kein Zweifel, es war die Kneipe: Sie hieß
Cañas y Barro
und sah genauso aus, wie
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