Kryptum
Bei Anbruch der Dämmerung hatten die jüngsten Familienmitglieder deshalb ihre Häuser verlassen und sich auf dem steil zum Flußbett hinabfallenden Felsen postiert, der die Stadtmauer des Judenviertels begrenzte.
Von dort aus können sie die Soldaten auf der Brücke sehen, die sich an einem Lagerfeuer wärmen, dessen Flammen bei dem heftigen Wind hoch lodern. Die Toledanos spähen in der Dunkelheit angestrengt hinüber zur anderen Seite des Flusses. Lange Zeit geschieht nichts, doch dann sehen sie das Signal vom anderen Ufer, eine Laterne, geschwenkt von einem Mann von schmächtiger Gestalt. Sie antworten ihm geschwind, indem sie ihre eigene Laterne hochheben, wobei sie sorgfältig darauf achten, daß das Gebäude des jüdischen Schlachthofs zwischen ihnen und den Wachen auf der Brücke liegt.
|298| Kaum haben sie ihre Signale ausgetauscht, werfen die Toledanos schon eine Strickleiter den Felsen hinab zu der Ruine einer Mühle, die vor langer Zeit der Blitz getroffen hat. Durch ein Lärchenwäldchen vor den Soldaten verborgen, klettern sie hinunter.
Auf der anderen Seite des Flusses bückt sich unterdessen der kleine Mann und hält vorsichtig die Hand in das eiskalte Wasser. Ihn schaudert bei dem Gedanken, daß er es durchqueren muß, um zu jenen zu gelangen, die ihn am anderen Ufer erwarten. Doch es gibt keine andere Möglichkeit, in die Stadt zu kommen, ohne verhaftet zu werden. Da richtet er sich wieder auf, blickt hinüber zum anderen Ufer, schwenkt noch einmal seine Laterne, und sowie er Antwort erhalten hat, löscht er sie aus. Der Moment ist gekommen.
Ein ungünstiger Moment, sagen sich die Toledanos, während sie ihn von der gegenüberliegenden Seite aus beobachten. Dort, wo sich das alte Wasserrad der Mühle befindet, ist die einzige seichte Stelle, die das Überqueren des Flusses gestattet. Doch selbst tagsüber und wenn man die Furt gut kennt, ist das sehr gefährlich. Nachts aber, noch dazu bei diesem Wetter und für einen Fremden, ist die Flußdurchquerung der reinste Wahnsinn. In der Mitte kann man kaum stehen, und die Strömung ist zudem sehr stark. Schon viele sind an dieser geheimen Stelle ertrunken. Jener Mann muß einen sehr triftigen Grund haben, um es trotzdem zu wagen.
Er watet in das Flußbett, in das dunkle, eisige Wasser. Ängstlich setzt er einen Fuß vor den anderen, geleitet nur von dem schwachen Laternenschein derer, die ihn auf der anderen Seite erwarten. Er müht sich, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Da, er rutscht aus, verliert beinahe das Gleichgewicht. Zum Glück kann er sich noch mal fangen. Als er sich der gefährlichen Flußmitte nähert, reicht ihm das Wasser erst bis zur Hüfte, dann bis zur Brust.
Vom gegenüberliegenden Ufer aus beobachten die Toledanos beklommen die merkwürdige Art, wie er sich fortbewegt. In steifer Haltung stemmt er sich der Strömung entgegen, statt |299| den Weg des geringsten Widerstands zu suchen. Ob er Krämpfe in den Beinen hat? Sie wissen, daß er gleich an den tiefsten und schwierigsten Punkt des Flußbetts kommen wird, und werfen sich besorgte Blicke zu.
›Ohne unsere Hilfe wird er es nicht schaffen‹, meint der jüngste und kräftigste der Toledanos.
Er nimmt seine Kopfbedeckung ab, entrollt das Stoffband, bindet sich das eine Ende um die Taille und fordert seine Begleiter auf, ihm auch ihre Turbane zu geben.
Er knotet die langen Stoffbänder an seinen eigenen, den er sich gerade um den Leib geschlungen hat, und befiehlt:
›Haltet dieses Ende fest, so daß es immer straff gespannt ist.‹
Dann wirft er sich geradewegs in die Strömung.
Inmitten des Flusses, reißt der Strom den schmächtigen Kerl fast mit sich fort, in Richtung der tückischen Strudel. Nichtsdestotrotz hält er sich kerzengerade. Der junge Bursche, der ihm zu Hilfe eilt, versteht sein Verhalten erst, als er ihn erreicht: Zum Schutz vor dem Wasser in ein gewachstes Tuch eingeschlagen, trägt er auf dem Kopf ein Bündel, das ihm wertvoller zu sein scheint als das eigene Leben.
›Seid bloß vorsichtig damit‹, bittet er seinen Retter mit dünner Stimme, als dieser ihn fest bei den Schultern packt, einen seiner kräftigen Arme unter denen des Männleins hindurchschiebt und ihn so an Land schleppt, wobei er sich an dem improvisierten Tau seiner Kameraden festhält.
Am Ufer ziehen sie dem Fremden die nasse Kleidung aus und wickeln ihn in eine Decke, die sie vorsorglich mitgebracht haben. Gesicht, Hände und Füße sind ganz blau, er zittert vor
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