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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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Kälte, kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Strickleiter müssen sie ihn hinaufhieven. Sein Bündel läßt er dabei nicht los; er hält es die ganze Zeit fest umklammert, selbst die Prellungen, die er an der Felswand davonträgt, als sie ihn hinaufziehen, schrecken ihn nicht.
    Innerhalb der Stadtmauern, im Judenviertel, bringen sie ihn dann ins Haus der Toledanos, wo man ihn am Feuer mit trockener Kleidung und einer heißen Suppe erwartet. Nach dem |300| Mahl fällt er völlig erschöpft ins Bett, jedoch nicht ohne – sicher ist sicher – sein Bündel als Kopfkissen zu verwenden.
    Am nächsten Tag, kaum ist er aufgewacht, bittet er seine Gastgeber, ihn unverzüglich zu Samuel Toledano zu bringen. Der Rabbiner, der über die Geschehnisse längst Bescheid weiß, empfängt ihn sofort. Als er den Raum betritt, sieht der Fremde, daß Samuel Toledano nicht allein ist, wie er es sich gewünscht hätte; die drei Oberrichter und der Ältestenrat sind bei ihm. Der alte Rabbiner bemerkt seinen Unmut und fordert alle Anwesenden auf, den Saal zu verlassen. Zum ersten Mal lächelt der kleine Mann.
    Da sie nun allein sind, bittet er um Erlaubnis, den Federkasten benutzen zu dürfen, den er auf einem kleinen Tisch neben dem ehrwürdigen Rabbiner entdeckt hat. Toledano ist zwar überrascht angesichts dieser merkwürdigen Art, sich zu erklären, willigt dann aber ein. Daraufhin setzt sich der Fremde an den Tisch und beginnt eifrig zu zeichnen. Vielleicht auch zu schreiben; es ist schwer zu sagen, was diese Linien bedeuten sollen, diese Kästchen, die er eines nach dem anderen mit Tinte ausmalt, genauen Regeln folgend, die nur er zu kennen scheint. Seine geschickte Hand verrät, daß Toledano einen Schreiber vor sich hat.
    ›Es würde besser aussehen, wenn ich meine eigene Feder und Tinte zur Hand gehabt hätte‹, entschuldigt er sich, als er fertig ist.
    Der alte Rabbiner sieht sich das Papier genau an. Er hält es ein Stück von sich weg, um es besser betrachten zu können. Sein Gesicht drückt Erstaunen aus. Dann blickt er abwechselnd auf das Papier und auf den Fremden, hüllt sich jedoch in Schweigen.
    Endlich fragt er ihn mit strenger Miene:
    ›Wo habt Ihr derartige Linien schon einmal gesehen?‹
    Der Fremde scheint jedoch nicht ohne weiteres reden zu wollen.
    ›Ich werde es Euch erzählen, wenn Ihr mir sagt, was sie bedeuten‹, schlägt er dem Rabbiner vor.
    |301| Samuel Toledano runzelt unwillig die Stirn.
    ›Ich kann Euch helfen, sie zu entschlüsseln, doch werde ich das nicht eher tun, als bis Ihr mir gesagt habt, wer Ihr seid und woher diese Linien stammen.‹
    ›Nun gut‹, lenkt der kleine Mann ein. ›Mein Name ist Azarquiel, und ich komme aus dem Königreich Marokko, genauer gesagt aus Fes.‹
    ›Das ist eine lange und sehr gefahrvolle Reise.‹
    ›Zuerst war ich in Córdoba, und von dort habe ich die Route über den Paß Muradal und Consuegra genommen. Die Wege sind zwar äußerst holprig, aber so kann man die Kontrollposten an den großen Straßen umgehen.‹
    ›Ihr habt meine Frage nur zur Hälfte beantwortet. Woher stammen diese Linien?‹
    Da schickt Azarquiel sich an, ihm das Geheimnis zu enthüllen:
    ›Also gut, so will ich es Euch erzählen. Alles begann in Fes, als man mich vor einigen Monaten bat, die Bibliothek einer der reichsten Familien der Stadt zu schätzen. Meine Auftraggeber waren andalusischer Herkunft und wollten nach dem überraschenden Tod des Familienoberhaupts ihren gesamten Besitz sichten und ein Nachlaßverzeichnis erstellt haben.
    Während ich also dessen Bücher und Dokumente durchsah und taxierte, blieb mein Blick immer wieder an dem seltsamen Tisch hängen, den man mir für die Durchführung meiner Aufgabe zugewiesen hatte und den auch der Verstorbene benutzt hatte, wenn er in seiner Bibliothek arbeitete. Wer genau hinsah, konnte erkennen, daß die äußeren Maße des Möbelstücks nicht mit der Tiefe der zahlreichen Schubladen übereinstimmten. Ich maß mit einer Kordel nach, und tatsächlich, nachdem ich eine Weile die Rückwand abgetastet hatte, entdeckte ich ein Geheimfach. Mit größter Vorsicht öffnete ich es und fand darin ein Pergament.
    Es war indes kein alltägliches Pergament, vielmehr eines aus hauchdünnem Gems- oder Gazellenleder. Darauf war mit Tinte etwas aufgezeichnet; vielleicht waren die Linien aber auch |302| eingebrannt worden. Es sah jedenfalls aus wie ein Labyrinth. Man muß nicht besonders bewandert sein, um zu begreifen, daß es sich um ein sehr,

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