Kryptum
Abgrund der Hölle stürzen‹.
Mir brach der Schweiß aus allen Poren, und ich glaubte schon, er meinte mich, als er seine prophetische Rede fortsetzte.
›Niemand wird sich vor Allahs Blicken verbergen können, der die Guten von den Bösen trennen wird … Der Schweiß wird manchen bis zum Knöchel stehen, anderen bis zu den Knien oder bis zum Mund und einigen auch bis über den Kopf. Und sie werden gezwungen sein, fünfzigtausend Jahre lang zu schwitzen.‹
|320| Es war offensichtlich, daß er mich durchschaut hatte. Ich sah mich unauffällig um, bemüht, einen Fluchtweg auszumachen, aber an allen Toren standen bis an die Zähne bewaffnete Wächter. Ich wußte, daß es für einen Moslem ebenso verdienstvoll ist, einen Christen zu töten, wie nach Mekka zu pilgern, und zudem oftmals weniger anstrengend, so daß ich mich schon verloren glaubte. Dann maß ich aus den Augenwinkeln die Höhe der Mauer, doch sie war so hoch und gewaltig, daß ich mich zu Tode stürzen würde, spränge ich von dort oben hinunter. Es war zudem nicht gerade ein reizvoller Ort, vielmehr einer, der Furcht einflößte: karger Boden, kahle Felsen, verwitterte Grabsteine, über denen noch die Trauer und der Schmerz schwebten, dazwischen nur ein paar Ysopbüsche, einige von der Sonne versengte Weinstöcke, ein paar verkrüppelte Olivenbäume und der eine oder andere verkümmerte Feigenbaum. Entmutigt wandte ich mich wieder dem Scheich zu.
›Es kommt oft vor, daß die Leute hier in Tränen ausbrechen‹, erklärte er, einer plötzlichen Anwandlung folgend, ›bei dem Gedanken an das, was sie am Tag des Jüngsten Gerichts erwartet. Dann empfinden sie aufrichtige Reue über ihre Entgleisungen und Fehler und geloben Besserung.‹
Und er begann wieder zu rezitieren.
›Wenn in die Posaune gestoßen wird, wird keine Verwandtschaft mehr unter euch gelten, und ihr werdet einander auch nicht mehr befragen …‹
Als ich dies hörte, war ich vor Freude ganz außer mir, denn
diese
Worte kannte ich wirklich in- und auswendig. Es waren die Verse, die mein einstiger Sklave Alcuzcuz immer hergesagt hatte, um mich darauf hinzuweisen, daß unsere Freundschaft zerbrochen war, nachdem mein Vater ihm das Gesicht mit dem glühenden Eisen gekennzeichnet hatte. In diesen Koranstellen war ich endlich firm, weshalb ich dem Scheich ins Wort fiel und den Vers in seiner ganzen Länge rezitierte.
›Wenn in die Posaune gestoßen wird, wird keine Verwandtschaft mehr unter euch gelten, und ihr werdet einander auch |321| nicht mehr befragen … An dem Tage, da ihr es erleben werdet, wird jede Mutter ihres Säuglings vergessen, und ablegen wird jede Schwangere ihre Last, und schauen werdet ihr die Menschen als Trunkene, wiewohl sie nicht trunken sind, an jenem Tage, da die Erde und die Berge erbeben, und die Berge zu einem Haufen Sand und zum Spielzeug der Winde werden.‹
Das Gesicht des Scheichs schien wieder Farbe zu bekommen. Er lächelte, beglückwünschte mich zu meiner tadellosen Aussprache der heiligen Sprache des Islam und erklärte mir schließlich:
›An jenem Tag des Jüngsten Gerichts, wenn in die Posaune gestoßen wird und sich der Thron des Allerhöchsten an diesem Ort erhebt, wird die Kaaba aus Mekka durch die Lüfte herbeigeflogen kommen und sich auf diesem heiligen Berg niederlassen und mit dem Felsen vereinen.‹
Daraufhin gingen wir meine silberne Lampe aus dem Magazin holen, wo das Öl gelagert wurde, betraten den Felsendom durch die Pforte, die Beb el Kebla genannt wird, und lenkten unsere Schritte zum heiligen Felsen, der sich in der Mitte des Heiligtums befand. Dort riefen wir Mohammed an und sprachen ein längeres Gebet, bevor wir mit großer Ehrfurcht den Abdruck seines Fußes berührten. Dann stiegen wir über die in den Stein gehauenen Stufen in die Höhle unter dem Felsen hinab und sprachen vor den Nischen, die die Namen Salomos, Davids, Abrahams, Gabriels und Elias’ tragen, jeweils ein Bittgebet. Der Scheich pries den heiligen Ort in großartigen Worten.
›Dies ist der Gipfel und die Vollendung des Berges Morijah, ein Felsen, der zu keiner Zeit von irgendeinem Schwert oder sonstigem Eisen mißachtet worden ist.‹
›Ich habe gehört, daß sich über diesem Felsen vor Urzeiten das Allerheiligste von Salomos Tempel erhob. Und daß der Felsen dem irdischen Paradies entstammt und auf ihm Gottes Name geschrieben steht. Stimmt das?‹ fragte ich, wobei ich mich bemühte, kein übermäßiges Interesse zu bekunden, um mich nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher