Kryptum
verraten.
|322| Da sah er mich auf seltsame Weise an und führte mich dann in eine der Ecken, wo er mich bat, mit ihm zusammen eine Steinplatte hochzuheben, auf der der Name des Kalifen al-Walid I. eingemeißelt war. Kaum hatten wir sie etwas angehoben, kam darunter ein Loch in der Größe eines Menschenkopfs zum Vorschein. Ich beugte mich darüber. Man sah kaum etwas. Trotz des spärlichen Lichts konnte ich dennoch erkennen, daß viele Fuß weit unten ein Labyrinth verlief, das mit dem auf dem Pergament übereinstimmte. Mit dem Unterschied, daß das Labyrinth dort unten keine Zeichnung war, sondern in die Tiefe zu gehen schien!
Der Scheich mußte wohl meinen staunenden Blick gesehen haben, denn er verschloß das Loch sofort wieder mit der Platte.
›Es wird die Seelengrube genannt, denn dort unten, in diesem Labyrinth, erwarten die Verstorbenen den Tag des Jüngsten Gerichts. Gebt Euch mit dem zufrieden, was Ihr gesehen habt. Nur wenige haben je einen Blick darauf werfen dürfen. Einzig diejenigen, die das Innere der Kaaba betreten haben, haben ein ähnliches Privileg genossen.‹
›Findet man das Labyrinth denn auch dort?‹ fragte ich.
›Es soll Abrahams Werk sein, der beide Heiligtümer errichtet hat, nachdem er aus Babylonien zurückgekehrt war, um der Anbetung der vielen Götter ein Ende zu bereiten.‹
Ich wollte nicht nachbohren, um nicht seinen Argwohn zu erregen. Hinter ihm stieg ich wieder die Treppe hinauf, und damit war mein Besuch des Haram beendet. Während ich den Gottesberg hinabstieg und zur Karawanserei zurückkehrte, wo du und Rebecca auf mich wartetet, zerbrach ich mir den Kopf, wie ich hinunter in die Seelengrube gelangen könnte, um herauszufinden, wie die Urform des Labyrinths auf dem Pergament aussah und was es verbarg. Aber als ich bei euch ankam, hatte deine Mutter nicht nur unsere Bündel nicht ausgepackt, sondern alles für eine sofortige Abreise aus der Stadt vorbereitet.
›Wir sind doch gerade erst angekommen. Was ist los?‹ fragte ich sie.
|323| ›Ich war auf dem Markt und habe einen von Askenazis Agenten gesehen, der gerade die jüdischen Händler ausfragte. Ich habe mich dem Stand unauffällig genähert und dabei mein Gesicht wie eine Mohammedanerin verhüllt. Sie suchen uns. Ich fürchte, sie sind in Tiberias gewesen und haben meinen Onkel Moisés und seine Leute genötigt, ihnen unseren Aufenthaltsort preiszugeben. Dorthin können wir nicht mehr zurück, denn sie werden sie sicher umgebracht haben.‹
›Wenn dem so ist, dann wissen sie auch, daß wir im Besitz der elf Keile des Pergaments sind. Sie werden sie um jeden Preis an sich bringen wollen. Wir müssen fliehen‹, stimmte ich voller Besorgnis zu.
›Aber wohin? Wo können wir mit unserem kleinen Mädchen hin?‹ Ich las die Beunruhigung in Rebeccas Gesicht.
›Nach Spanien‹, antwortete ich.
Ich bemerkte ihr tiefes Unbehagen. Sie wußte nur zu gut, welche Gefahr ihre Familie dort lief. Doch ich durfte mich nicht erweichen lassen.
›Die ganze afrikanische Küste ist in der Hand der Türken, und das gleiche gilt für die andere Seite des Mittelmeers bis über Italien hinaus. Nur in Spanien werden wir sowohl vor Askenazi als auch vor Euldj Ali sicher sein.‹
›Du vergißt Artal de Mendoza.‹
›Er wird es nicht wagen, uns zu behelligen, wenn wir den unmittelbaren Schutz Seiner Majestät erlangen.‹
›Hältst du das denn für möglich? Denk daran, wie es beim letzten Mal war, als du ihm unsere Botschaft nach Brüssel brachtest und ihn nicht einmal zu Gesicht bekamst.‹
›Damals wußte ich auch noch nichts über den Inhalt dieser Botschaft. Diesmal werde ich nicht so unüberlegt vorgehen.‹
›Aber wie kommen wir dorthin?‹
›Mit den Pilgern, die aus Jerusalem zurückkehren. Ich kümmere mich darum, herauszufinden, welche Pilgergruppen gerade in der Stadt sind und welche Schiffe vor Jaffa liegen. Und wenn alles paßt, werde ich an der richtigen Stelle meine Dukaten spielen lassen.‹
|324| Man riet mir, mich an die Venezianer zu halten, die zweimal im Jahr christliche Pilgerfahrten unternahmen. Es war zwar teuer, aber sehr sicher und gut organisiert und damit für uns, die wir mit dir, einem kleinen Mädchen, reisten, die beste Wahl. Die Überfahrt nach Venedig dauerte etwas über einen Monat, und von dort aus ritten wir auf dem Landweg nach Genua, wo wir uns auf einer der Galeeren des Großherzogs von Florenz einschifften, die uns ungehindert nach Marseille brachte. Dort begann der härteste
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