Kryptum
Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen. Da erinnerte ich mich an Moisés Toledanos Worte, bevor er mir die elf Pergamentfragmente in Tiberias übergeben hatte:
Um
den Eingang zu finden, braucht Ihr alle zwölf Keile des Pergaments,
es darf kein einziger fehlen. Und Ihr müßt wissen, wie man sie anordnet
, damit sie sich ineinanderfügen, und sie zum Schluß noch entschlüsseln. Andernfalls
könnt ihr die Zeichen direkt vor der Nase haben
und sie dennoch nicht deuten.
›Wißt Ihr, was mich beunruhigt?‹ Calderóns Worte rissen mich aus meinen Gedanken. ›Daß man in unmittelbarer Nähe der Casa de la Estanca schon seit Monaten Erde aushebt. Und auch sonst wird in letzter Zeit in der Nachbarschaft viel gezimmert und gehämmert.‹
›Was wird hier denn gebaut?‹ fragte ich ihn.
›Juanelo Turriano arbeitet an einer Vorrichtung, mit der man das Wasser vom Fluß herauf ins Sammelbecken der Casa de la Estanca schaffen kann‹, antwortete Don Manuel. ›Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber es ist nichts aus ihm herauszubekommen. Ihr kennt ihn doch besser, warum sucht Ihr ihn nicht auf?‹
Ich beschloß also, Turriano einen Besuch abzustatten. Herrera und er hatten mir bereits bei unserem letzten Zusammentreffen im Hause Calderóns von dieser mechanischen Erfindung erzählt. Doch das war etliche Jahre her. Nie hätte ich gedacht, daß sie deren Bau wirklich in Angriff nehmen würden. Don Manuel zufolge war Turrianos Wunderwerk nun in aller Munde. Ich brannte darauf, es selbst in Augenschein zu nehmen.
Durch die Puerta de los Doce Cantos, Antiguas nach Osten hin gelegenes Stadttor, gelangte ich zu dem steilen Abhang, der zum Fluß hinabführte und an dem geschäftiges Treiben herrschte. Es war eine seltsame Konstruktion, die sich da die Schlucht hinaufwand und den tiefen Einschnitt des Flußbettes |359| mit dem höchsten Punkt der Stadt verbinden sollte, wo sich der Alkazar und die Casa de la Estanca befanden. Auf dem Weg nach unten mußte ich immer wieder den mit Brettern oder Messingteilen beladenen Maultieren wie auch den Gerüsten der Handwerker ausweichen, die an dem imposanten Holzgestänge arbeiteten, mit dessen Hilfe die erste Steigung überwunden werden sollte. Das eigentliche Wasserhebewerk unten am Fluß beeindruckte mich jedoch noch viel mehr: Die beiden riesigen Räder, die mit ihren Schaufeln durch das Wasser pflügten, übertrugen ihre Drehkraft auf den hölzernen Wellbaum und die kupfernen Schöpfkübel, kurzum, auf die ganze Konstruktion. Unablässig würde Juanelos
artificio
so das Naß nach oben befördern, und zwar nahezu geräuschlos, da die robusten Achsen kaum vibrierten.
Nachdem ich das Ganze eine Weile beobachtet hatte, verstand ich auf einmal auch den Sinn und Zweck der Holztürme, die sich bereits auf einigen Felsterrassen vom Ufer bis hinauf zum Alkazar erhoben und in ihrem Inneren ein eigentümliches System genau aufeinander abgestimmter Kübel bargen. Sie sollten das Wasser aus dem großen Schöpfwerk unten am Fluß von einem Kübel jeweils zum nächsthöheren heben.
Ich erspähte Turriano in einem Kahn auf dem Fluß. Der große, ungeschlacht wirkende Mann kam mir noch besorgter als früher vor, wie er sich so nach vorn beugte, um den sich immer stärker verengenden Zulauf zum Wasserrad zu inspizieren, der die Leistung des gesamten Hebewerks steigern sollte. Als ich unten am Ufer angekommen war und ihm die Hand hinstreckte, um ihm beim Aussteigen aus dem Kahn zu helfen, erkannte er mich zunächst nicht.
›Ihr habt jenen Boten ja schnell vergessen, der Euch einst in Yuste Nachrichten von Eurem Freund Cardano überbrachte‹, scherzte ich.
›Raimundo Randa! Was für eine freudige Überraschung! Wie geht es Euch?‹
›Ich lebe noch, und das will was heißen. Und selbst?‹
›Na ja, mich plagen etliche Zipperlein, und ich fühle mich |360| ziemlich zerschlagen, aber es wird mir hoffentlich bald wieder bessergehen.‹
›Man hat mir berichtet, daß Ihr nach dem Tod des Kaisers nach Madrid gezogen seid, aber Euch die Luft dort nicht gut bekommen ist.‹
›All die Intrigen, das ist nicht auszuhalten! Der Hof ist nichts für mich‹, antwortete Turriano schnaubend. ›Da arbeite ich lieber von früh bis spät, und sei es als Galeerensklave. Wer hat Euch das erzählt?‹
›Don Manuel Calderón.‹
›Ah ja, der königliche Abgesandte, der die Casa de la Estanca verwaltet.‹
›Er sagt, er möchte nicht sterben, bevor er nicht Euer Wunderwerk vollendet
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