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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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eine hervorragende Imitatorin. Die junge Frau konnte nicht nur wie Sara reden und gestikulieren, nein, sie argumentierte auch genauso, und zwar so exakt, daß es David die Sprache verschlug.
    In diesem Augenblick sah der Architekt zu David herüber. Er mußte wohl denken, daß er seine Gastgeberpflichten vernachlässigte, wenn er mit seinem Patenkind noch länger über ihre gemeinsamen Erinnerungen sprach, denn nun wandte er sich an ihn.
    »Von Pedro Calderón gäbe es auch einiges zu berichten …«
    »Sie wollten mir erzählen, wie Sie meinen Vater kennengelernt haben.«
    |404| »Das mache ich gern. Es war, glaube ich, Ende der fünfziger Jahre, als er nach Antigua kam, um sich um den alten Palast mit der Casa de la Estanca zu kümmern, den Abraham Toledano vor dem Bürgerkrieg gekauft hatte. Rachels Großvater wollte, daß ich mich um den Umbau kümmerte. Er wollte daraus ein Zentrum für Sephardische Studien machen.«
    »Das muß Anfang der sechziger Jahre gewesen sein«, sagte David. »Es gibt ein Foto von Ihnen mit Abraham Toledano, Sara und meinem Vater. Auf einem Balkon über der Plaza Mayor.«
    »Richtig, ich erinnere mich. Das war in meinem Architekturbüro, es geht direkt auf den Platz hinaus.«
    »Warum trägt Sara auf diesem Foto ein so komisches Kleid? Und mein Vater hält etwas in der Hand. Eine Art Fähnchen.«
    »Das sieht man auf dem Foto?« Maliaño lächelte wehmütig. »Das ist ein alter Brauch, der während des Fests der Stadtpatronin zelebriert wird. Die unverheirateten Männer und Frauen versammeln sich auf dem Platz. Sobald die Musikkapelle einsetzt, beginnen die Frauen im Uhrzeigersinn unter den Arkaden den Platz zu umrunden, während die Männer dies in entgegengesetzter Richtung
vor
den Arkaden tun. So können sich alle zwischen den Säulen verheißungsvolle Blicke zuwerfen. Schon manche Ehe ist an diesem Feiertag gestiftet worden. Wenn ein Mädchen aufgrund seiner sozialen Stellung das Ganze von einem Balkon herab verfolgt, kann es sich auf eine andere Art ins Geschehen einschalten: Es wirft bunte Fähnchen hinunter, die mit ein bißchen Glück an der Kleidung des Auserwählten hängenbleiben. Die Balkone sind mit Girlanden in der gleichen Farbe geschmückt. Wenn das Musikstück zu Ende ist, suchen die Glücklichen die zu ihrem Fähnchen passenden Bänder an den Balkonen und werden von den Mädchen dann zu Muskateller und Gebäck eingeladen. Das Fähnchen auf dem Foto, das Pedro so stolz hochhält, ist von Sara, die ihr Glück von meinem Balkon aus versucht hatte.«
    »So etwas hat Sara gemacht? Meine ernsthafte Mutter?« fragte Rachel lachend.
    |405| »Glaub bloß nicht, daß sie ihn so leicht erbeutet hat! Beim ersten Mal warf sie ihr Fähnchen daneben und das zweite Mal ebenfalls. Erst in der dritten Runde traf sie ihn. Nachdem die Musik aufgehört hatte, blieb Pedro wie ein Trottel mitten auf dem Platz stehen, und ich mußte ihn laut rufend auf das Fähnchen auf seinem Rücken aufmerksam machen. Abraham und Peggy Toledano hingegen, die dem Treiben zusammen mit ihrer Tochter zugeschaut hatten, fanden das nicht so amüsant, denn es kam einem öffentlichen Bekenntnis gleich, daß die beiden jungen Leute Gefallen aneinander fanden. Und das war fast wie Inzest zwischen Geschwistern, da sie ja zusammen aufgewachsen waren.«
    »Deshalb sehen Rachels Großeltern auf dem Foto nicht sonderlich glücklich aus. Jetzt verstehe ich.«
    »Ja, sie fürchteten, Sara wolle mit Pedro in Antigua bleiben. Andererseits sahen sie ihre Tochter zum ersten Mal zufrieden und voller Eifer bei der Sache … Damals schickten sie sie zum Studium nach Chicago. Pedro hingegen blieb hier. Im Laufe der Jahre wurde er jedoch immer eigenbrötlerischer. Viele glaubten, er habe den Verstand verloren. Und am Ende lief das Zentrum für Sephardische Studien auch nicht so, wie sie es erwartet hatten.«
    David fragte sich erneut, was genau zwischen seinem Vater und Sara Toledano gewesen war, und vor allem, was vorgefallen war, daß sich schließlich alles gegen sie verschworen hatte. Er wollte gerade nachhaken, da brachte Marina den nächsten Gang. Der Architekt nutzte die Gelegenheit, um schnell das Thema zu wechseln.
    »Das ist Melone mit Sardellen, Rachel. Das magst du doch so gern«, verkündete er.
    »Lecker … Marina, Sie müssen mir unbedingt das Rezept geben«, bettelte Rachel. »Womit haben Sie die Melone getränkt? Mit Portwein?«
    »Nein, Señorita, sie war in Anislikör und dem Saft einer halben Zitrone

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