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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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sie lachend.
    |488| »Du irrst dich, du bist frei. Ich verlange nur von dir, daß du mich zu Rubén Cansinos führst. Danach kannst du tun und lassen, was du willst.«
    »Ich werde Euch zu ihm bringen. Ich kenne diese Stadt wie die Linien meiner Hand.«
    Randa erinnert sich, daß er dies zuerst für einen Scherz hielt, ein Beweis mehr für die jugendliche Keckheit des Mädchens. Doch schon bald konnte er feststellen, daß sie kein bißchen übertrieben hatte. Sie schlängelte sich durch die Menschenmassen der Stadt, ohne sich auch nur ein einziges Mal im Labyrinth ihrer Gassen zu verirren. Schon allein dafür hätte es sich gelohnt, sie an seiner Seite zu wissen.
    Doch da war noch mehr. Trotz ihres bisherigen rastlosen Lebens zwischen all den Verkaufsständen des Bazars konnte man in der jungen Frau eine geheimnisvolle Tiefe erahnen, eine Unberührtheit und Reinheit, die nicht einmal ihre üppigen weiblichen Reize hatten zerstören können. Leider verstand er das nicht, bis es zu spät war. Es verwirrte ihn, daß sie keinerlei Schamgefühl zu besitzen schien, was ihn daran hinderte, zu begreifen, daß es für das Mädchen kein Spiel war. Daß sie vielmehr verzweifelt nach Zuneigung suchte und die Entschiedenheit, mit der sie sich ihm hingab, ihre Art war, ihm zu sagen, daß sie zu allem bereit war, wenn sie dafür seine Liebe erhielt …
    Nur schwer gelingt es Raimundo Randa, in die Wirklichkeit des Verlieses zurückzukehren. Doch plötzlich wird er Ruths fragenden Blick gewahr, die darauf wartet, daß er mit seiner Erzählung fortfährt.
    »Entschuldige bitte, ich weiß nicht, wo ich mit meinen Gedanken war … Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich sagte gerade, daß ich anfangs dachte, jenes Mulattenmädchen werde mir mehr im Weg sein, als daß sie mir wirklich helfen könnte. Doch sie kannte sich in der Stadt tatsächlich gut aus und versprach, mich zu Rubén Cansinos zu führen.
    Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg. Wir mußten ein gutes Stück gehen, bis wir schließlich vor einem riesigen |489| Gebäude standen, das irgendwann wohl sehr prächtig gewesen sein mußte, doch inzwischen war es so verfallen, daß ich auf den ersten Blick nicht dahinterkam, was es genau war oder wozu es diente. Das junge Mädchen erklärte mir, dieser Palast sei für eine der Konkubinen des Königs gebaut worden. Bei der Einweihung sei der Monarch, der dem Trunk verfallen war, jedoch angeheitert gewesen und habe seinen Wesir und den Architekten zu diesem für sein Königreich so nötigen ›Hospital‹ beglückwünscht. Und da ein Herrscher sich niemals irre – und erst recht nie betrunken sei –, sei aus dem Palast ein Hospital geworden. Doch inzwischen benutze man es als Irrenanstalt. Die Geisteskranken müßten auf Stroh schlafen, und ihre Essensrationen, die man ihnen achtlos hinstelle, seien so knapp bemessen, daß sie sie mit Zähnen und Klauen verteidigen müßten. Die Erklärungen des Mädchens standen im traurigen Kontrast zu dem pompösen Gebäude, auf dessen Tore Tigmú nun zuging. Zu einem der Wächter, den sie gut zu kennen schien, sagte sie:
    ›Wir wollen den Zittermann besuchen.‹
    Stumm wies er uns den Weg. Als wir den riesigen Innenhof überquerten, hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, ein Klappern, das von der Höhe der Dächer zu kommen schien, ohne daß ich es jedoch genau bestimmen konnte. Das Mädchen lenkte seine Schritte zu den Arkaden, wo es fast schreiend einen alten Mann begrüßte, der einen großen Vogel auf dem Schoß hielt. Er hatte ein kantiges Gesicht und einen Bart so weiß wie die Federn des Vogels, der sich von dem Alten ungerührt behandeln ließ. Er verband ihm gerade ein Bein, an und für sich schon eine schwierige Aufgabe, die noch erschwert wurde durch das krampfartige Zucken seiner Hände, das ihm wohl den Spitznamen
Zittermann
eingebracht hatte. Kaum hatte er Tigmú erkannt, zeigte sich ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesicht. Er setzte den Vogel auf den Boden.
    Das Mädchen beugte sich nun zu dem Greis, dessen Beine gelähmt schienen, und umarmte ihn herzlich. Doch erst als sie mich auf sephardisch vorstellte und erklärte, ich käme aus Antigua |490| , verstand ich. Ich konnte meine Erregung nur mühsam verbergen: Zittermann war kein Geringerer als Rubén Cansinos. Endlich hatte ich den letzten Geschworenen gefunden! Ohne Tigmús Hilfe wäre mir das nie gelungen. Außerhalb jener Mauern verstummte ausnahmslos jeder, sobald ich wissen wollte, wo und ob der alte Jude

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