Kryptum
noch lebte, und hier drinnen kannte wahrscheinlich niemand seinen richtigen Namen. Die Hochstimmung schlug jedoch gleich darauf in Ernüchterung um: Was nutzte es mir, ihn gefunden zu haben, wenn sein Geist verwirrt war?
Die Stimme des von einer unendlichen Müdigkeit gezeichneten Greises klang brüchig, als er darauf zu mir sagte:
›Ich fürchte, Ihr kommt zu spät. Jener Teil meines Lebens ist tot. Nur durch sie stehe ich noch in Verbindung mit dort oben.‹
Dabei deutete er mit seinen zittrigen Händen auf den Vogel, der auf seinem Schoß gesessen hatte und immer noch ruhig neben ihm seine Federn putzte.
›Das ist ein Storch, nicht wahr?‹ fragte ich.
›Nicht
irgendein
Storch! Das ist Susana. Und dort oben sitzen Cristina und Víctor. Und seht Ihr die beiden da drüben? Das sind Perla und Jonás.‹ Er zeigte nun hinauf zum Dach zu zwei Storchenpärchen, die in ihren Nestern laut mit den Schnäbeln klapperten. ›Aber Susana ist etwas ganz Besonderes. Sie hat keinen Kameraden und ist zudem schwer verletzt. Sie ist aus ihrem Nest vertrieben worden.‹
SeineWorte machten mir Hoffnung, es doch nicht mit einem Irren zu tun zu haben, denn eigentlich kamen sie mir nicht sonderlich wirr vor. Vorsichtig fragte ich nach.
›Was meint Ihr damit, daß Ihr nur durch sie noch in Verbindung mit
dort oben
steht?‹
Da erklärte er mir in seinem spröden Sephardisch, daß Störche ihr ganzes Leben zusammenblieben und immer ins selbe Nest zurückkehrten. Und seine Pärchen hatten ihre Nester in Spanien. Da begriff ich, daß die Zeit für ihn seit der Vertreibung aus Spanien stehengeblieben war und er sich selbst noch ›dort oben‹ und mit den Störchen hin und her ziehen sah. Die |491| Erinnerungen an den Sepharad, seine unwiederbringlich verlorene spanische Heimat, hatten an ihm wohl ebenso genagt wie der Zahn der Zeit an den vom Salpeter zerfressenen Mauern der Irrenanstalt.
Davon abgesehen schien er mir jedoch noch bei recht klarem Verstand zu sein. Er erzählte mir, seine große Büchersammlung, auf die er sehr stolz gewesen sei, habe sogar einige Bände umfaßt, die aus der berühmten Bibliothek des Kalifen al-Hakam II. und seines Vertrauten Ibn Shaprut zu Zeiten des Kalifats von Córdoba stammten. Al-Hakam II. und Ibn Shaprut: von ihnen hatte auch Moisés Toledano damals in Tiberias gesprochen, als er Rebecca und mir die elf Keile des Pergaments übergeben und uns in deren Geheimnis eingeweiht hatte!
›All dieses Wissen geht mit denen verloren, die hier unten geboren werden. Sie interessieren sich nicht mehr für all die Denkwürdigkeiten von dort oben‹, erklärte er traurig.›Es geht die Sage, daß dereinst die Küsten Spaniens und Afrikas so nahe beieinander gelegen hätten, daß die Karawanen über eine einfache Steinbrücke von einem Kontinent zum anderen ziehen konnten. Dann wäre jedoch der Meeresspiegel gestiegen und die Brücke in den Wellen versunken. Die Seeleute versichern, bei Ebbe könne man sie manchmal noch sehen.‹
Einige Zeit schwieg er gedankenverloren, bevor er mit einem Seufzer meinte, daß ihn jetzt nur noch die Störche mit jenen fernen Gefilden verbanden.
›Ihr müßtet sie einmal sehen, wie sie von dort oben zurückkommen, wenn heftige Stürme über der Meerenge von Gibraltar toben. Völlig geschwächt schließen sie dann die Augen und machen sie stundenlang nicht wieder auf. Ich pflege die kranken Störche, und gegebenenfalls begrabe ich sie auch. Viele Juden lassen mir dafür eine Spende zukommen, weil Störche Glücksbringer sind. Und weil manche glauben, daß sie eigentlich Menschen sind, die sich in Störche verwandelt haben, um jedes Jahr unerkannt zurückzukehren. Deshalb gilt derjenige, der einen dieser Vögel tötet, auch als Verbrecher. Sobald |492| der Februar kommt, ziehen sie gen Norden. Und wenn sie zurückkommen, lassen sie sich wieder in denselben Nestern nieder, die sie im Frühling verlassen haben.‹
So wie Cansinos mir dies alles erzählte, gelangte ich immer mehr zu der Überzeugung, daß dieser Mann bei vollem Verstand war. Und der beste Beweis dafür war, daß er, trotz aller Aufmerksamkeit, mit der ich ihm lauschte, an meinem Gesicht wohl auch die innere Unruhe ablas, weshalb er auf einmal sagte:
›Aber Euch führen eigentlich ganz andere Angelegenheiten hierher, nicht wahr?‹
Ich ließ mich nicht lange bitten, sondern zog mein Messer und trennte damit vorsichtig den Gürtel auf, in dem ich die elf Pergamentkeile versteckt hatte. Ich breitete sie
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