Kryptum
Eine Stadt. Antigua, soviel war sicher. Der felsige Einschnitt des Flusses, die Brücken, die zwischen zahlreichen Kuppeln hoch aufragenden Türme. Ein Platz, ein Markt wie aus einer anderen Zeit. Voller Menschen. Und großem Trubel. Ein Rauschen, das in seinem Inneren, in irgendeinem verborgenen Winkel seines Gedächtnisses begraben gewesen war und jetzt in seiner Erinnerung widerhallte. Wenn nicht gar in noch tieferen, noch ferneren Schichten seines Bewußtseins.
Plötzlich zog es ihn zu dem Brunnen in die Mitte des Platzes. Der Schritt durch den Wasservorhang, der ihn die Augen schließen ließ. Er fiel. Um ihn herum nur steinerne Mauern. Unaufhaltsam stürzte er in die Tiefe. Näherte sich dem Herzen des Platzes, das zwei unversöhnliche Welten miteinander verband. Düstere Vorahnungen von Blut und Asche überkamen ihn. Immer deutlicher spürte er den Herzschlag der versunkenen Stadt mit ihren feuchten, kalten Katakomben. Jene |584| Spirale aus finsteren Treppen und stillgelegten Gängen, die sich in die Tiefe schraubte und ihn lockte, bis sie ihn eingefangen hatte und er ganz von ihr aufgesogen wurde.
Was für ein unendlich tiefes Loch war das? Ein Brunnenschacht? Zu Beginn war es winzig klein gewesen. Dann hatte es sich jedoch geweitet, war immer tiefer geworden. So tief, daß er schon glaubte, seine Augen könnten sich irgendwann an die Dunkelheit gewöhnen, so daß er die Schatten an den Wänden erkennen würde. Doch auf seinem schwindelerregenden Fall flogen sie viel zu schnell an ihm vorbei. Er hörte sie flüstern, konnte aber nichts verstehen. Bis einer der Schatten, ein bärtiger Mann in altmodischem Gewand, aus der Dunkelheit auftauchte und sich nach seinem Namen erkundigte. »David«, erwiderte er, verlor ihn aber sogleich wieder aus den Augen, da er fiel und fiel. Irgendwann traf er jedoch wieder auf den Mann. Er mußte ihm in die Tiefe hinabgefolgt sein. Er starrte ihn aus seinen tiefliegenden Augen an und fragte, wo sie sich befanden.
»Über diesem Schacht liegt die Plaza Mayor von Antigua. Dies ist der Brunnen, der mitten auf dem Platz steht«, antwortete er dem Fremden, der ihm seltsam vertraut vorkam.
Und er fiel weiter. Der Schacht verengte sich nun immer mehr zu einem Trichter, an dessen Ende etwas metallisch glitzerte. Die rauhen Mauern um ihn herum kamen unaufhaltsam näher. Er versuchte sich ganz schmal zu machen, damit die unbehauenen Steine nicht seine Haut schürften. Er schloß die Augen, da er spürte, daß der Moment des heftigen Aufpralls unmittelbar bevorstand. Wundersamerweise geschah jedoch nichts dergleichen. Er passierte die Enge, und die Beklemmung ließ nach. Alles fühlte sich auf einmal weicher und wärmer an. Doch dieses erste Gefühl der Leichtigkeit schlug schon bald um in Ekel, als seine Finger im Fall über die Wände glitten, die sich feucht und klebrig wie der Schleim einer Schnecke anfühlten. Dennoch versuchte er, sich daran festzuklammern, um seinen Sturz zu bremsen, aber er rutschte und rutschte immer tiefer hinab, bis der Grund sich in dicke Tropfen |585| auflöste, die sich in konzentrischen Kreisen um ihn ausbreiteten und über ihm zusammenschlugen, so als wäre ein Stein in einen silbrig glänzenden Tümpel gefallen.
Im selben Moment vernahm er ein entferntes Brummen, das irgendwo von oben zu kommen schien und immer lauter wurde. Seine Lider begannen zu zucken. Sein Mund fühlte sich ausgetrocknet an, die Zunge pelzig. Nach und nach nahm er um sich herum Stimmen wahr, die sich bemühten, leise zu sprechen. Er überwand die bleierne Schwere seiner Lider und öffnete die Augen. Vor einem hellen Hintergrund hoben sich verschwommene Gesichter ab, deren Konturen langsam deutlicher hervortraten. Da begriff er, daß er in einem Bett lag. Er war in einem Krankenhaus. Und am Fuß des Bettes standen John Bealfeld und Rachel Toledano.
»Willkommen in der Welt der Lebenden«, begrüßte ihn die junge Frau erleichtert.
»Wie geht es unserem Helden? Gut, hoffe ich. Abgesehen natürlich von seinem üblichen Zorn auf die ganzeWelt«,brummte Bealfeld lächelnd.
»Wasser … einen Schluck Wasser, bitte …«
Während er trank, befühlte David Calderón vorsichtig seinen verbundenen Kopf. Da begann er sich wieder zu erinnern: an den nächtlichen Besuch im Palast vor der Casa de la Estanca, an die einsame Sackgasse im Regen, die angelehnte Tür, den strangulierten Hund, das dunkle Zimmer und Gabriel Lazos Kopf in der Blutlache. Und an jenen finsteren Typ und den
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