Kryptum
um das Kreischen der Motorsäge zu übertönen.
»Wenn Sie den Baum fällen, komme ich in meinem Häuschen vor Hitze um!« protestierte er lauthals.
Er war so aufgebracht, daß Rachel ihn nur mit Mühe und Not zur Schranke ziehen konnte, damit er die Parkgebühr kassierte und ihnen die Schranke öffnete.
»Wie soll ein Baum innerhalb eines einzigen Tages vertrocknen?« wetterte er weiter. »Zugegeben, es hat diesen Frühling nicht viel geregnet. Sie hätten ihn halt gießen müssen oder ihm jetzt Wasser geben.«
Wenig später fuhren sie in Richtung des historischen Stadtkerns, und kurz darauf betraten sie den Innenhof der Geisteswissenschaftlichen Fakultät.
»Ich habe einen Termin mit Frau Professor Elvira Tabuenca«, erklärte Rachel dem Hausmeister in seiner Pförtnerloge.
»Wie heißen Sie?« fragte er und hob den Telefonhörer ab.
»Rachel Toledano.«
Es dauerte nicht lange, bis die Professorin am anderen Ende der Eingangshalle erschien. Sie war eine quirlige Person, die mit langen Schritten auf sie zukam.
»Sie sind also Saras Tochter«, begrüßte sie die junge Frau.»Sie erwischen mich in einem schlechten Moment. Jemand ist gestern in mein Büro eingebrochen.«
Rachel und Bealfeld sahen sich alarmiert an, sagten aber nichts.
Elvira Tabuenca führte sie zu ihrem Büro am Ende eines Ganges, wo ein Schlosser gerade die Löcher für ein neues Türschloß bohrte.
»Brauchen Sie noch lange?« rief die Professorin.
»Mindestens noch eine halbe Stunde«, nuschelte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.
Elvira Tabuenca warf einen Blick auf ihren Schreibtisch. Sie schien nachzudenken. Als der Bohrer wieder losging, runzelte |644| sie die Stirn, zog eine Schublade auf, nahm einen Schlüssel heraus und sagte dann zu Rachel und Bealfeld:
»Hier werden wir uns nicht unterhalten können. Kommen Sie mit.«
Sie eilte wieder hinaus auf den Gang und streckte den Kopf durch den Türspalt eines anderen Büros, um der Sekretärin der Abteilung Bescheid zu sagen.
»Wenn was ist, ich bin im Seminarraum VII.«
Der Raum befand sich genau am anderen Ende des Ganges, wo der Kommissar Rachel bedeutete, daß er vor der Tür auf sie warten werde.
Der Seminarraum war sehr geräumig und voller Vitrinen und Regale. In der Mitte standen große Tische.
»Sie müssen meine schlechte Laune entschuldigen«, sagte die Archäologin, während sie Platz nahm und Rachel aufforderte, sich ihr gegenüberzusetzen. »Ich war ein paar Tage verreist, und bei meiner Rückkehr sehe ich, daß bei mir zu Hause und im Büro eingebrochen worden ist.«
»Am selben Tag?« Rachel war schockiert.
»Ich glaube schon.«
»Und was haben sie mitgehen lassen?«
»Das ist ja das Komische: nichts, soweit ich das bisher überblicken kann. Aber es ist schwer zu sagen, denn sie haben alles durchwühlt.«
»Sie hatten doch Prüfungen, oder?«
»Ja, aber ich glaube nicht, daß der Einbruch etwas damit zu tun hat. Meine Studenten machen so etwas nicht. Wer auch immer das war, er hat die Dateien auf meinem Computer und meine Disketten durchgesehen und in den Ausgrabungsberichten herumgeschnüffelt, die ich in meinem Büro sammle.«
»Berichte über Ihre Ausgrabungen im Mittleren Osten?«
»Genau. Das ist mein Spezialgebiet.«
»Wenn ich mich nicht täusche, hat meine Mutter diese Ausgrabungen mit Mitteln unserer Stiftung finanziert, oder?«
»Ja, das stimmt. Obwohl ich sagen muß, daß es mit Sara mal |645| so und mal so lief. Ich weiß nicht, ob Sie darüber Bescheid wissen …«
»Wie lange kennen Sie meine Mutter schon?«
»Sie hat vor mehreren Jahren Kontakt mit mir aufgenommen, nachdem ich dieses Ausgrabungsprojekt in einer Archäologie-Zeitschrift vorgestellt hatte. Sie schrieb mir und bot mir an, die Ausgrabungen mit Geldern der Stiftung zu finanzieren.«
»Wie heißt das Projekt?«
»Qasarra. Das ist der Name eines Wüstenpalasts aus der Zeit der Omaijaden, der ersten Kalifendynastie, die zur Zeit der Eroberung Spaniens herrschte. Als mir Ihre Mutter schrieb, war ich gerade dabei, die Lage dieses Gebäudes ausfindig zu machen.«
»Sie wußten also nicht genau, wo er sich befand?«
»Wir wußten nur, daß er unter dem Sand der syrischen Wüste vergraben war, irgendwo im äußersten Südosten.«
»Und warum hat sich meine Mutter dafür interessiert?«
»Weil der ›Sarazenischen Chronik‹ zufolge, die von der Eroberung Spaniens durch die Araber berichtet, der Kalif al-Walid I. sich dort des öfteren aufhielt, nachdem seine
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