Kryptum
waren schon ganz nah bei der Kathedrale. Ob es hier wohl eine Möglichkeit gab, durch die Mauer unter den Platz zu gelangen? Sie konzentrierten sich so sehr darauf, irgendwo einen Spalt oder vielleicht ja auch eine Markierung in Kufi-Schrift zu entdecken, daß sie nicht merkten, wo sie hintraten. Zwar wollten sie sich noch |707| am Rand des Lochs festkrallen, doch es war bereits zu spät. Sie stürzten in die Tiefe.
Verzweifelt klammerten sich David und Rachel aneinander. Der Fall schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie fielen aus der Höhe einer Kuppel herab, die sich nach unten hin immer mehr weitete.
Wie der Traum, den ich im Krankenhaus hatte, schoß es David durch den Kopf. Die Luft sauste in seinen Ohren, und Rachels Haare hingen ihm ins Gesicht, während er die intensive Wärme ihres an ihn gepreßten Körpers spürte.
Sie fielen von so hoch oben herab, daß er fürchtete, sie würden den Sturz nicht überleben.
Der Aufprall ist schrecklich. Ein Schauder ergreift Randas Körper, als er das unendlich lange dauernde Knirschen Dutzender zersplitternder Knochen vernimmt. Dann wird ihm schwarz vor Augen.
Als er wieder zu sich kommt, entdeckt er als erstes weit oben das Loch, durch das er herabgestürzt ist, die Rippen, die wie die Stücke einer Orange zum offenen Scheitelpunkt der Kuppel hin spitz zulaufen. Er wundert sich, daß er noch lebt.
Während er sich das Blut aus dem Gesicht wischt, sieht er, was ihn gerettet hat. Er liegt auf einem gewaltigen Knochenhaufen. Schädel, Schienbeine, Schulterblätter, Schlüsselbeine, Rippen: das Ossarium von Antigua. Die Katakomben unter der Kathedrale.
Randa versucht aufzustehen, rutscht jedoch auf den Gebeinen aus und kullert den Haufen hinunter, bis er endlich festen Boden unter den Füßen hat. Er sieht sich suchend nach seiner Laterne um. Sie ist zerbrochen, aber ihre Flamme brennt noch, so daß er sich eine Fackel anzünden kann, die er in einer Räucherpfanne findet.
Vor ihm öffnet sich ein Gang, in dem bis zur Decke sorgfältig unzählige Gebeine aufgeschichtet sind. So viele, daß er die Wände nicht mehr sehen kann. Selbst die Säulen in der Mitte eines großen Saals, den er jetzt betritt, sind gleichmäßig |708| mit Oberschenkelknochen und Schädeln verkleidet. Das Licht der Fackel verzerrt sie so, daß die Totenköpfe ihn auszulachen scheinen.
Zum Glück weisen ihm Holzpfeile den Weg, in die mysteriöse Zeichen eingebrannt sind. Er schätzt, daß er sich unter dem Marktplatz befindet, dort wo die Gänge zugemauert sind, weshalb er weitergehen und nach den Kanälen suchen muß, nach dem Wasser, das ihn zum Fluß und damit hinaus in die Freiheit führen wird.
Überhaupt nicht gerechnet hat er jedoch mit dem, was er vor sich sieht, als er im letzten Stollen der Katakomben um eine Ecke biegt.
Die Höhle, die sich vor ihm öffnet, ist unermeßlich groß. Als er die Fackel senkt, sieht er, daß vor ihm ein See liegt und er auf einem Steg steht. Festgebunden an einen Pfahl, schaukelt ein Kahn auf dem Wasser. Randa bückt sich und nimmt ihn genau in Augenschein. Er scheint kein Leck zu haben. Er klettert hinein, steckt die Fackel in die Eisenschelle am Bug und beginnt über das Wasser zu rudern, das dort, wo kein Licht hinfällt, tief und pechschwarz ist und bläulich-grün, wo sich die Lichtstrahlen darauf brechen. Es ist schwindelerregend und zugleich unheimlich schön.
Staunend rudert er unter stuckverzierten Bogen hindurch, die auf einem dichten Wald von Säulen ruhen, die von fein gearbeiteten Kapitellen gekrönt sind. Soweit er im Licht seiner Fackel erkennen kann, erstreckt sich jener steinerne Palmenhain in alle Richtungen. Aus jeder Säule entspringen vier Bogen, die auf einer anderen Säule enden, von der wiederum vier Bogen ausgehen, die ihrerseits auf vier weiteren Säulen ruhen … ein Raum, der sich endlos auszudehnen scheint. Kein Zweifel: er befindet sich inmitten der Ruinen der Großen Moschee von Antigua. Die jetzt eine riesige Zisterne bildet, woraus die Stadt in Zeiten der Trockenheit ihr Wasser schöpft, sobald die Speicher der Casa de la Estanca leer sind.
Im durch seine Ruderschläge aufgewühlten Wasser vermischen |709| sich die glitzernden Spiegelbilder der Bogen und Arabesken zu immer neuen Mustern, wie in einem unerschöpflichen Kaleidoskop. Es ist ein magischer Moment. Ganz überwältigt hört er auf zu rudern und verharrt regungslos inmitten dieses unwirklichen, in unendliche Melancholie versunkenen Raums.
Da stößt der Kiel des
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