Kryptum
hören, das von ihm Besitz zu ergreifen beginnt, die Wände fangen an zu vibrieren wie die Pfeifen einer Orgel. Er versucht, sich die Ohren zuzuhalten, aber es nutzt nichts, denn das Geräusch quillt auch aus seinem Inneren heraus, da es die Grenzen seines Körpers überwinden und sich mit jenem äußeren Klang vereinigen möchte. Er blickt nach unten. Es liegt noch ein weiter Weg vor ihm. Aber jetzt muß er nur noch die Rampe hinabsteigen, die sich |721| in einer Spirale die Wand hinabwindet, und den Eingang zu den Ruinen des Königspalasts finden.
Jenes Geräusch steigt noch immer aus den Tiefen der Erde empor und hallt an den Wänden des Schachts wider. Auf einmal beschleicht ihn tiefe Beklemmung, die seinen Blick trübt. Auf seinem Abstieg entlang der festgefügten Mauer beugt er sich immer wieder zu den Fensterscharten, durch die ein kaltes, stets intensiver werdendes Licht hereinfällt, das schließlich eine milchige Textur annimmt. Er fühlt sich dem Talisman schon nah, diesem im Herzen des Labyrinths, inmitten des unermeßlichen Schatzes liegenden Kubus. Durch die Luken kann er seinen starken Glanz wahrnehmen, der seine Augen mit lichten Nadelstichen durchbohrt.
Als er unten ankommt und nach oben blickt, wird er erst der Großartigkeit des Wunderwerks gewahr, das über seinem Kopf schwebt. Wohin er auch blickt, es ruft ein unbeschreibliches Schwindelgefühl in ihm hervor. Bogen über Bogen kreuzen sich in alle Richtungen, vermischen sich mit den Säulen, auf denen sie inmitten eines chaotischen Durcheinanders aus Pilastern, Türmen und Altären ruhen … Es gibt Stege, aber viele scheinen nirgendwohin zu führen. Wenn nicht direkt in den Abgrund. Wieder andere kehren zu ihrem Ausgangspunkt zurück, ohne daß man sagen könnte, ob sie nun nach oben oder nach unten führen. In dem Wirrwarr aus verwinkelten Gebäuden und verfallenen Bastionen liegen Schächte in Schächten, Gänge in Gängen, gibt es Bollwerke, die andere Mauern stützen, ins Nichts ragende Strebepfeiler und Kuppeln, die sich in ihrem eitlen Streben nach Höhe über dem Abgrund zu erheben scheinen.
Weiter oben erkennt er plötzlich noch mehr Lichter, die ganz anders sind als das milchige Licht, das aus dem Grund emporquillt. Es sind zwei Personen, die sich über die Öffnung beugen, ein Mann und eine Frau. Und er sieht auch sich selbst, bei jedem einzelnen Mal, als er sich während des Abstiegs über den Schacht gebeugt hat. Wo befindet er sich? In welcher Zeit? In welchem Raum?
|722| Jetzt geht es jedoch nicht mehr weiter hinab. Vor ihm erheben sich die Ruinen des Königspalasts. Und auf einem über dem Abgrund gespannten Plateau sieht er das Labyrinth. Der Moment der großen Prüfung ist gekommen. Er wird es nur schaffen, wenn er es nach einem ganz genauen Plan durchquert, so wie es ihm das Raster im Inneren seines Gehirns wird diktieren müssen. Keinen falschen Schritt darf er tun, um jene unbekannte Kraft nicht aufzuwecken.
Kaum hat er das Labyrinth betreten, wird das laute Klagen immer stärker, was ihn daran hindert, den rettenden Weg heraufzubeschwören, das Labyrinth, das sich in seinem Inneren entfalten muß, damit er es mit diesem zusammenführen kann. Er spürt den Kampf derer, die ihm vorangingen und nun versuchen, in sein Bewußtsein vorzustoßen. Seine Kräfte schwinden. Er fühlt sich nicht in der Lage, die Geister aus dem tiefsten Inneren seines Wesens zu bannen. Die Erinnerung an Rebecca quält ihn und schürt seine innere Unruhe. Er beschwört ihre wohltuende Anwesenheit im Haus des Traumes und fragt sich, warum sie ihm jetzt nicht beisteht und ihm hilft, die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben. Hat sie ihm sein langes Fernbleiben immer noch nicht verziehen?
Als er um eine Ecke biegt, läßt ihn etwas zurückweichen. Er denkt an das Ungeheuer, das den Schatz bewacht. Aber vielleicht ist das Ungeheuer nichts anderes als der Schatz selbst, der ihn mit seinem verlockenden Glanz blendet. Er will schon den Weg einschlagen, der ihn ins Verderben führt, als er Rebeccas Gegenwart spürt, wie damals, als sie ihn im Haus des Traumes beschützt hat, als sie ihn bei seinem Namen rief, immer und immer wieder, bis er sie erkannte. Und wie damals zeigt sie ihm jetzt den richtigen Weg, so daß er nun sicheren und leichten Schrittes das Labyrinth durchquert, da ihr Verzeihen ihn umhüllt wie ein schützender Balsam. So gefeit gegen die Verlockungen und die Macht des Talismans gelangt er unbeschadet zu dem Weg, der ihn hinunter zum
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