Kryptum
Fluß führt, wo er auf seine Tochter treffen wird. Und endlich frei ist.
|723| Der Gang war so eng, daß ein Mensch kaum hindurchpaßte. Vorsichtig tasteten sich David und Rachel an den Wänden entlang, die aus einem undefinierbaren, metallisch glänzenden Material bestanden. Streng auf den Kompaß und das Muster achtend, die ihnen als Wegweiser dienten, zweifelte der Kryptologe, welchem Weg sie folgen sollten, als er einige Schritte weiter vorn das Ende eines Stricks erblickte. Aus unerfindlichen Gründen lief er darauf zu, ohne zu überprüfen, ob dieser neue Gang dem Weg entsprach, der von der Thron-Sure markiert war. Plötzlich gab der Boden unter seinen Füßen nach.
Er schrie, um Rachel zu warnen. Instinktiv hatte er nach dem Strick gegriffen, der jedoch nirgendwo befestigt zu sein schien. Wenn seine Gefährtin nicht blitzschnell reagiert und den Strick gepackt hätte, wäre er unweigerlich in die Tiefe gestürzt. Mit beiden Beinen stemmte sie sich gegen die Wand des Labyrinths und schlang dann das Seil um ihren Körper, so daß David sich daran hochziehen konnte.
Nach Luft schnappend sanken die beiden nebeneinander auf den Boden. Erst nach einer Weile war der Kryptologe imstande, aufzublicken. Voller Entsetzen stellte er fest, daß der Gang, durch den sie gekommen waren, sich hinter ihnen geschlossen hatte. Es gab kein Zurück mehr. Sie konnten nur noch weitergehen, immer dem Strick nach, der auf dem Weg ausgelegt war und ihnen anscheinend die Richtung wies, denn in regelmäßigen Abständen hatte er einen ganz außergewöhnlichen Knoten. Sie waren ihm schon ein gutes Stück nachgegangen, als David plötzlich stehenblieb.
»Was hast du, David? Du bist ja ganz bleich«, erkundigte sich Rachel besorgt.
»Diese Knoten …«, stammelte er, »diese Knoten sind von meinem Vater! Daß ich da nicht früher draufgekommen bin. Knoten zu schlingen war eine Leidenschaft von ihm. Wenn er nachdachte, hatte er immer ein Stück Schnur in der Hand, an dem er herumknotete. Als ich klein war, hat er mich manchmal auf den Schoß genommen und mir welche gezeigt.« David räusperte sich, um die längst vergessen geglaubten Kindheitserinnerungen |724| abzuschütteln. »Mit diesen Knoten hat er jedesmal die Runden markiert. Ich glaube, wir nähern uns dem Zentrum.«
Doch auf einmal endete der Strick. Unsicher gingen sie weiter, bis sie hinter einer Wegkrümmung einen Rucksack entdeckten. Mit einem Aufschrei stürzte sich Rachel darauf.
»Der gehört meiner Mutter! Ich habe ihn ihr vor vielen Jahren geschenkt … Ich … ich dachte eigentlich, er gefällt ihr nicht.«
»Hätte sie ihn dann mit auf diese Expedition genommen?« Während sie immer tiefer in das Innere des Labyrinths vordrangen, schien dieses sie mit einem leichten Beben seiner Wände wahrzunehmen, das immer stärker wurde und ihre Sinne zunehmend verwirrte. Vielleicht brauchte David deshalb länger, um zu verstehen, warum Rachel plötzlich schneller zu laufen begann und jede Vorsicht vergaß. Er begriff es erst, als er die Mullbinden auf dem Boden entdeckte und die Blutflecken, die sich an der Wand entlangzogen. Von Sara, zweifellos. Als er auf den Plan blickte, sah er, daß sie gleich den Mittelpunkt des Labyrinths erreichen mußten. Er stürzte hinter Rachel her, um sie einzuholen, bevor es zu spät war.
Unterdessen spürte Rachel einen undefinierbaren Druck auf der Brust und den Schläfen, der immer größer wurde. Sie fühlte sich ihrer Mutter ganz nahe, irgendwo in diesem Wirrwarr mußte sie gefangen sein. Sie spürte förmlich, wie sie sich freizukämpfen, den Widerstand des gierigen Labyrinths zu überwinden bemühte, sich einen Weg hinaus zu bahnen versuchte. Das Labyrinth verstärkte jedoch Rachels Sorge noch um ein Hundertfaches. Inzwischen konnte sie schon nicht mehr sagen, wo seine Wände aufhörten und ihr eigener Körper anfing, eine Erkenntnis, die aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien und sie in einem Strudel wechselnder Formen aufzulösen drohte.
Auch David fürchtete, daß der Wahnsinn seinen Verstand umnachtete. Er versuchte, mit seiner Gefährtin zu kommunizieren. Aber die Worte sprudelten nur noch in einer unverständlichen |725| Sprache aus seinem Mund und ergossen sich in wirren Wellen über das rhythmische Kauderwelsch jenes immer verstörenderen Lärms, der an Intensität zunahm, je mehr er sich dem Zentrum näherte. Er bekam Ohrensausen, und er fühlte so starken Schwindel, daß er zu taumeln begann und gerade noch an den
Weitere Kostenlose Bücher