Kryson 01 - Die Schlacht am Rayhin
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W eit und ohne Halt war der weiße Falke geflogen. Losgelassen und ausgesendet von seinem Herrn hatte er die schier grenzenlose Freiheit des Fluges genossen. Sein Weg hatte ihn von den Ufern des Rayhin an der Tareinakorach, hoch über die weiten, hügeligen Graslandschaften der Klanlande, über die dreiunddreißigtausend Fuß hohen, schneebedeckten Gipfel und Bergmassive des Riesengebirges, danach wieder in rasendem Sturzflug die steilen Felswände des Choquai hinab, schließlich bis an sein Ziel nach Eisbergen geführt.
Die hastig zusammengerollte, an das Bein des Falken gebundene Botschaft hatte den Vogel während des langen Fluges kaum behindert. Der Falke hatte sich den Großteil der Strecke mit ausgebreiteten Schwingen vom Südwind geradewegs in die äußerste Stadt des Nordens gleiten lassen.
Kaum hatte er die am äußersten Rand gelegenen Siedlungshäuser von Eisbergen erreicht, erblickten seine scharfen Augen die von den Katastrophen der vergangenen Tage halb verwüstete Handelsstadt unter ihm. Der Eispalast stand unbeschädigt mit seinen in den Sonnenstrahlen glitzernden Eiskristallen und glich aus der Vogelperspektive einer riesigen Trutzburg. Das sich im Palast hell reflektierende Sonnenlicht blendete den Falken. Es zog ihn sogleich Richtung Meer, in einer großen Schleife um den Eispalast herum und geradewegs zum Hafen hin. Niemand würde ihm wegen dieses kleinen Umwegs böse sein, den er sich nach der langen Reise verdient hatte und ausnahmsweise gönnte, um seine Rückkehr in die heimatlichen Gefilde gebührend zu befliegen.
Der Falke kannte seine Heimat gut. Jeden Zoll hatte er in seinem klugen Kopf gespeichert, sich an Häusern, Tempeln, Felsen, Eisbergen, Schneeverwehungen, Bäumen und anderen Auffälligkeiten orientiert.
Wie oft schon war er über die Stadt gezogen und hatte sich mit scharfen Krallen in der Nähe des Hafens einen Fisch aus dem Wasser gezogen oder gelegentlich von den ihm wohlgesonnenen einheimischen Fischern zuwerfen lassen. Nach seinen Ausflügen war er stets zu seinem Herrn zurückgekehrt, der ihn aufgezogen, von klein auf liebevoll umsorgt, abgerichtet und immer gut behandelt hatte.
Der treue Vogel hatte sein Gefieder nach jedem Flug ausgiebig geputzt, die ihm wohltuenden Streicheleinheiten und Leckerbissen abgeholt und sich anschließend auf der Schulter oder dem Arm seines Herren ausgeruht. Wenn sein Herr keine Lust hatte, ihn zu tragen, musste eine speziell für ihn angefertigte, lange Stange mit einem am oberen Ende für seine Krallen passenden Querbalken herhalten. Im Grunde war das eine feine Sache für den Falken, allerdings hatte die Stange den großen Nachteil, dass er eine damit verbundene Kette am Bein tragen musste, die verhinderte, dass er fliegen konnte, wann immer er wollte.
Doch etwas beunruhigte ihn jetzt. Aufmerksam versuchte der Falke, die für ihn unerwarteten Veränderungen richtig einzuordnen. Die Hafenanlagen und die Fischerboote fehlten, waren einfach verschwunden. Dort wo sonst die Boote vor Anker lagen und große, in mehreren Reihen hintereinander angebrachte Anlegestege zu finden waren, lagen kreuz und quer verstreut Trümmer herum. Schnee und schwere Eisbrocken verstopften die Wege und den Hafen. Im Hafenbecken selbst schwammen neben zerstörten Holzplanken, Seilen, Fässern, allerlei Abfall, Resten und Segelfetzen zahlreiche leblose Körper und viele abgerissene Körperteile der Klan. Teils mit den Köpfen nach unten ins Wasser gerichtet, teils von der Hüfte abwärts halbiert hüpften ihre aus dem Wasser ragenden Rümpfe wie Korken auf und ab in der schaukelnden Bewegung der Wellen.
Er zog seine Flügel enger an seinen Körper, ließ sich ein Stück tiefer fallen und roch dicht über der Wasseroberfläche das Salz des Meeres. Der Geruch nach Verwesung ließ ihn die Flügel schneller schlagen und rasch wieder an Höhe gewinnen.
Da bemerkte er noch etwas anderes in der Luft und der näheren Umgebung, was ihn ängstigte und sein kleines Herz vor Aufregung schneller schlagen ließ. Der Falke war der einzige Vogel, der seine Kreise über Eisbergen zog. Einsam und alleine. Das fehlende Kreischen und Gezeter der stets hungrigen Möwen zwang ihn, einem drängenden inneren Gefühl folgend, genauer hinzusehen.
Neben den Leichen der Einwohner, der Fischer und dem, was die Moldawars nach ihrem unbändigen Fressrausch noch übrig gelassen hatten, trieben unzählige aufgedunsene Vogelkadaver der Möwen und anderer in der Gegend um Eisbergen
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