Kryson 01 - Die Schlacht am Rayhin
Verletzten ohne Ausnahme vergiftet. Der Kreislauf des Schreckens ist in Gang gesetzt und das Gift arbeitet unaufhaltsam in unseren Freunden hier. Wollt ihr alle einen grausamen Tod sterben? Wollt ihr euch gegenseitig auffressen und eure Seelen der Verdammnis überlassen? Wollt ihr ein weiteres, noch viel größeres Massaker erleben? Wenn wir der Vergiftung nicht auf der Stelle hier und jetzt Einhalt gebieten, wird es im Morgengrauen keine Verteidigungsarmee der Klan mehr geben, die den Rachuren den richtigen Weg zurück weist. Ihr werdet alle übereinander herfallen und euch an eurem eigenen Fleisch und Blut laben. Ich werde keinen von euch aus einem Anflug von Mitleid diesem Wahnsinn opfern. Macht endlich die Augen auf, wir befinden uns mitten in einem hässlichen Krieg.«
Die kurze Ansprache verfehlte ihre Wirkung nicht. Es war wieder Ruhe unter den Klankriegern eingekehrt. Madhrabs Worte hallten nach und arbeiteten in ihren Köpfen weiter.
»Gibt es denn gar kein Gegengift?«, fragte Renlasol erschüttert.
»Doch. Es gibt ein Gegengift. Bloß haben wir es nicht zur Hand. Nur eine Orna könnte vielleicht noch helfen ... aber ... ich sehe keine unter den Anwesenden. Niemand außer den heiligen Frauen kennt das Geheimnis des Gegengiftes oder kann es richtig anwenden. Es würde Tage dauern, bis wir eine Orna zu uns rufen könnten. Und auch sie hätte nur eine winzig kleine Chance, die Vergiftung aus den Körpern zu bannen. Bis dahin hätte sich das gesamte Lager durch den im Verborgenen lauernden Irrsinn schon längst selbst vernichtet und aufgefressen.« Madhrab blickte unnachgiebig in die Runde.
Fackellichter und wilde Schatten tanzten auf den angespannten Gesichtern der Soldaten. Die Verletzten sahen Madhrab verzweifelt an. Sie hatten bereits erkannt, dass es kein Zurück mehr gab. Sie würden durch die Hand ihres Anführers und die ihrer Freunde sterben. Der Lordmaster würde sich nicht durch Flehen oder Bitten erweichen lassen. Ihr Schicksal war besiegelt, als der Lordmaster unbeirrt fortfuhr: »Tötet sie! Tötet sie schnell und schmerzlos. Verbrennt Körper und Kleidung. Verbrennt ohne Ausnahme alles, womit sie in Berührung kamen. Bis zum Sonnenaufgang muss es erledigt sein. Aber ihr Opfer wird nicht umsonst gewesen sein und schon bald gesühnt werden. Sie sterben für uns alle. Haltet sie in großen Ehren und gedenkt unserer Kameraden in diesem trostlosen Augenblick jeden Tag aufs Neue. Gedenkt ihrer, wenn ihr in die Schlacht zieht. Gedenkt ihrer, wenn ihr dem Feind ins Auge blickt. Keiner wird vergessen werden.«
Als der Lordmaster mit seiner Ansprache geendet hatte, hob er Solatar und tötete den vor ihm kauernden Verletzten, der den Schwerthieb schicksalsergeben ohne Gegenwehr und mit einem letzten Gebet an die Kojos auf den Lippen entgegennahm. Kein Raunen und kein Laut der Entrüstung waren mehr zu vernehmen. Die Klankrieger glaubten an den Lordmaster. Er war ein Bewahrer. An der Richtigkeit seiner Worte und an seinem Handeln gab es keinen Zweifel. Schließlich kam Bewegung in die versammelten Krieger. Schweigend machten sich einer nach dem anderen an das schreckliche Werk, das ihnen der Lordmaster vorexerziert und befohlen hatte. Selbst Yilassa zog ihr Schwert und folgte Madhrabs Beispiel. Die verletzten Kameraden sangen gemeinsam eine traurige Weise, während ihnen das Leben genommen wurde. Das machte das Töten für ihre Kameraden nicht leichter. Im Gegenteil. Eine gespenstische Stimmung breitete sich über das Lager. Niemand redete. Ein bedrückender Albtraum, aus dem es anscheinend kein Erwachen geben konnte. Nach vollbrachter Tat wurde das Lazarettzelt abgerissen, die im Lager verstreuten Leichen auf einem Haufen am Vorplatz zusammengetragen. Die Soldaten brachten Holz, das sie unter und zwischen die Leichname legten. Die toten Körper der Kameraden wurden mit Öl übergossen und mit brennenden Fackeln angezündet. Tränen standen in den Augen der trauernden Freunde. Jemand stimmte ein Lied der Trauer an. Ein Lied, das durch Mark und Bein ging und eine tiefe Wunde in den Herzen der Anwesenden hinterließ. Das Feuer brannte hoch und der Geruch des verbrannten Fleisches war bis weit über die Ufer des Rayhin hinaus wahrzunehmen. Hinter dem Horizont, gerade über den hohen Berggipfeln des Riesengebirges in der Ferne, ging vor einem tiefrot gefärbten, wolkenbehangenen Himmel die erste Sonne von Kryson auf, als das Feuer niedergebrannt war, sich die Gemeinschaft der Trauernden langsam auflöste
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