Kryson 01 - Die Schlacht am Rayhin
Sapius räusperte sich kurz. »Wisst Ihr, Elischa, das alles erinnert mich an die geheimnisvollen Naiki aus den ewigen Wäldern von Faraghad. Ein verschwundenes Volk der Altvorderen. Sie konnten sich beinahe vollständig verbergen, blieben für die meisten Augen unsichtbar, so sagt man. Ihre Feuer waren erst erkennbar, wenn man geradezu in sie hineinlief und sich daran verbrannte. Die Tiere des Waldes dienten ihnen als Augen und Ohren, genauso wie bei Euch. Ich glaube, ich sollte mich bei Gelegenheit näher mit den Orna und ihren Bräuchen beschäftigen, meint Ihr nicht auch? Je mehr ich von Euch sehe und darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Ansicht, dass ohne Zweifel Gemeinsamkeiten zwischen Euren Geheimnissen und denen der Naiki von Faraghad bestehen.« Er hielt einen Moment inne und betrachtete die Holzkiste auf Elischas Schoß. »Wie könnt Ihr den Weg der Käfer verfolgen ... darf ich es sehen?«, fragte Sapius neugierig.
Elischa sagte nichts, stattdessen reichte sie ihm wortlos die Holzschachtel. An der Innenseite des Deckels war ein aus zwei Teilen bestehender, in einem schmalen, schön mit winzigen goldenen Käfern verzierten Goldrahmen eingefasster Spiegel angebracht. Sapius’ Augen wurden groß. Als er in den Spiegel hineinsah, konnte er nebeneinander zwei sich vorwärts bewegende Bilder erkennen. Die fliegenden Bilder waren klar und deutlich zu erkennen. Die Käfer befanden sich auf halber Höhe zwischen Bäumen und Sträuchern, flogen aber offensichtlich in verschiedene Richtungen.
Sapius berührte den Spiegel vorsichtig und verspürte ein leichtes Prickeln in den Fingerkuppen. Welche Magie auch dahinterstecken mochte, er kannte sie nicht. Sapius verstand die Welt nicht mehr. Er war ein Saijkalsan und hätte die Magie fühlen müssen. Es sei denn, es handelte sich um keine von den beiden Brüdern freigesetzte Magie. Doch das war unmöglich, davon war er zutiefst überzeugt – oder sollte es etwa neben den Saijkalrae und ihrer Magie doch noch etwas anderes geben? Zwar hatte er davon gehört, diesen Gedanken aber jedes Mal gleich wieder als vollkommen abwegig verworfen. Die beiden Schläfer, der dunkle Hirte und sein Zwillingsbruder, der weiße Schäfer, waren die einzigen ihrer Art, dessen war er sich sicher. Sie waren die Saijkalrae, denen er diente und aus denen er seine Macht und seinen einzigen Lebensinhalt bezog.
Sapius erinnerte sich beim Betrachten der fliegenden Bilder im Spiegel, wie er einst vor vielen Sonnenwenden seinen Zugang gefunden hatte und welch schmerzlichen Prozess er hatte durchleben müssen, um von den Brüdern anerkannt zu werden.
*
Jedes Wesen, das ein Saijkalsan werden und die Saijkalrae für sich einsetzen wollte, musste zuallererst einen Zugang zu ihnen finden. Jedes zum Dienen auserkorene Lebewesen konnte allerdings nur seinen eigenen, ganz persönlichen Zugang entdecken. Die Saijkalrae waren noch lange nicht Bestandteil des täglichen Lebens oder etwa Teil dieser Welt. Sie waren ohne Zweifel etwas Besonderes, Geheimnisvolles, anders als alles, was bekannt und den Sterblichen begreiflich war. Göttlich und gefährlich zugleich. Für ein sterbliches Wesen unverständlich und angsteinflößend. Die Kraft der Schöpfung und der Zeit ruhte in ihnen. Das Geheimnis alles Lebens ließe sich in ihnen ergründen.
Sie waren nicht wirklich greifbar. Weder die Klan noch andere Völker des Kontinents konnten sich unter ihrer Existenz etwas vorstellen, geschweige denn sie verstehen. Niemand vermochte sie zu fühlen, zu riechen, zu hören oder zu sehen. Nur wenige waren in der Lage, die Saijkalrae zu finden. Ein sehr erfahrener Saijkalsan konnte sie in einem gewissen Umfang wissentlich steuern und kontrollieren, was ihn viele Sonnenwenden und enorme Anstrengungen kostete. Manch Auserwählter fand die Brüder zeit seines Lebens nicht oder wenn überhaupt, dann nur einen kleinen Teil von ihnen. Manch Begabter fand sie zwar, konnte sie aber niemals für sich nutzen. Andere Suchende wiederum fanden nur eine Seite und mussten sich dann entscheiden, ob sie diese wirklich für sich nutzen wollten oder ob es möglicherweise klüger wäre, das sein zu lassen.
Denn es gab nicht nur die eine Seite der Saijkalrae, es gab keine klare Grenze zwischen Tag und Nacht, Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Um leben zu können und das Gleichgewicht zu wahren, waren die Nuancen dazwischen entscheidend. All die farblichen Abstufungen, die leisen Zwischentöne, der ständige und immer wiederkehrende
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