Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
des Wahlvorschlages bekannt und legten vor den Augen der versammelten Orna Zeugnis ab. Währenddessen wurde eine Sanduhr umgedreht. Jede von ihnen erhielt jeweils eine Hora Zeit, um die anderen davon zu überzeugen, dass sie die einzig Richtige für das Amt sei. War die Sanduhr abgelaufen, war auch die Redezeit beendet und die Nächste kam an die Reihe.
Jede Orna hatte eine Stimme. Natürlich konnte sie sich auch selbst wählen, was in der Vergangenheit allerdings nur selten vorgekommen war. Die Abstimmung fand nicht im Geheimen, sondern durch Handheben direkt im großen Versammlungssaal statt. Stimmte eine der vorgeschlagenen Orna für sich selbst, wurde dies von den anderen Schwestern meist nur milde belächelt und nicht als vorteilhaft eingestuft. Bei einem Gleichstand der Stimmen wurde nach einer Pause erneut abgestimmt.
Die Regeln für die Wahl zur heiligen Mutter waren also denkbar einfach und doch hatte es in der Geschichte der Orna hin und wieder sowohl während als auch nach der Wahl heftige Diskussionen über die Richtigkeit der Ergebnisse oder die Eignung auf die soeben in das wichtigste Amt des Hauses gewählten Orna gegeben.
Elischa kümmerte die Wahl im Grunde wenig. Sie hatte keine besonderen Präferenzen für eine bestimmte ihrer Ordensschwestern. Aus diesem Grund kritzelte sie einfach den Namen Hegoria auf die Schriftrolle, weil sie mit ihr gemeinsam die Ausbildung durchlaufen hatte. Sie traute Hegoria die notwendige Härte, die Erfahrung, das Durch-setzungsvermögen sowie das diplomatische Geschick am ehesten zu.
Elischa hatte ein weit geschnittenes, moosgrünes Gewand gewählt, als sie ihre Kammer verließ, um ihren Wahlvorschlag in die Urne zu werfen. Niemand im Haus der heiligen Mutter durfte erkennen, in welchen Umständen sie sich befand. Auf dem Weg durch die Flure bis zur Urne begegneten ihr einige Orna und Schülerinnen, die ihr teils freundliche, teils zweifelnde Blicke zuwarfen. Sie verdächtigen mich des Mordes an der heiligen Mutter, zumindest aber der Beteiligung an der furchtbaren Tat, dachte Elischa.
Sie stieg rasch die Treppen hinab und bog in den unteren Flur ein. Dort standen drei Orna zusammen, deren Gespräch abrupt verstummte, als Elischa vorbeieilte. Schlimmer noch, sie sehen mir an, dass ich ein Kind unter meinem Herzen trage, befürchtete sie die Entdeckung ihres Verstoßes gegen die Ordensregeln.
An der Urne angelangt stand eine ältere Orna, die den Wahlvorgang und dessen Richtigkeit überwachte. Sie lächelte Elischa freundlich an. Ayale war eine gute Lehrerin und hatte die fleißige Schülerin mit den unterschiedlichen Augenfarben über die Sonnenwenden ihrer Ausbildung hinweg immer gemocht. Die Lehrmeisterin genoss hohen Respekt unter den Orna und war bekannt für ihre offene Art und Ehrlichkeit.
»Schön, dich zu sehen, Elischa«, begrüßte Ayale ihre Ordensschwester, »du traust dich also doch aus deiner Zelle. Das ist gut. Seit deiner Rückkehr haben wir dich zu unserem Bedauern nur selten gesehen.« Ayale hatte eine warme und tiefe Stimme für eine Frau. Ihr in Ehren ergrautes Haar trug sie zu einem Vogelnest hochgesteckt. Ihre Haut war trotz ihres hohen Alters erstaunlich glatt geblieben und ließ sie aus der Nähe jünger aussehen, als sie tatsächlich war. Lediglich ihre wässrig blauen Augen und einige Lachfalten, die ihren Mund und die Augenpartie umspielten, verrieten ihrem Gegenüber, dass sie schon über eine lange Erfahrung als Orna verfügte.
»Danke, Ayale. Ich freue mich ebenfalls, dich an diesem Ort vorzufinden. Wer außer dir könnte die Wahl und das Einhalten ihrer Regeln besser überwachen? Die heilige Mutter hat mich für die Zeit der Vorbereitungen von den Pflichten entbunden«, antwortete Elischa und vermied es, ihrer einstigen Lehrerin direkt in die Augen zu sehen.
»Ich weiß«, sagte Ayale, »ich wollte dir keinen Vorwurf machen. Die Vorbereitungen und die Konzentration auf das Wesentliche sind wichtig. Das Gleichgewicht muss gewahrt bleiben. Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf?«
»Selbstverständlich«, willigte Elischa ein.
»Du solltest den Gerüchten besser vorbeugen. Unterschätze nicht den Neid, der an einigen deiner Schwestern jeden Tag bis zur Vereidigung nagt. Deine Sonderstellung bei der heiligen Mutter, die dich zuweilen als eine eigene Tochter sah und dir das eine oder andere Privileg verschaffte, wurde nicht von allen unter uns gerne gesehen. Deine unübersehbare Schönheit, die merkwüdigerweise mit jedem Tag
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