Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
noch strahlender wird, verfehlt ihre Wirkung bei manchen unserer Ordensschwestern ebenfalls nicht. Tritt den Gerüchten entschieden entgegen, bevor sie dich auffressen, und nähre sie nicht zusätzlich durch dein zurückweisendes Verhalten. Die Orna haben ein feines Gespür für Stimmungsschwankungen und Veränderungen. Sie riechen es, wenn etwas nicht stimmt. Das müsstest du selbst am besten wissen«, empfahl Ayale mit Nachdruck.
»Die Gerüchte sind Unsinn«, meinte Elischa. »Ich habe Mutter nichts zuleide getan und meine Schwestern habe ich stets zuvorkommend behandelt.«
»Auch das weiß ich«, fuhr Ayale fort. »Ich kenne dich und einige deiner Stärken und Schwächen. Du wärst nicht in der Lage, die Mutter zu töten oder die abscheuliche Tat zu unterstützen. Das ginge nicht mit rechten Dingen zu. Da gibt es andere, denen ich einen solchen Mord eher zutraue. Und dennoch musst du dich in Acht nehmen. Du trägst etwas in dir, was dich verändert hat. Ich kann es fühlen. Es ist wie eine Last, die dich drückt, oder eine Furcht, die dich treibt und dich ängstlich umsehen lässt, als ob jemand hinter dir her wäre und dir dein Leben nehmen wollte. Wenn du mich fragst, verbirgst du ein Geheimnis vor den Augen deiner Ordensschwestern. Das macht deine Schwestern neugierig und bringt dich zugleich in Verdacht. Lass die Angst nicht die Oberhand über dich gewinnen. Verdränge sie.«
Elischa erschrak bis ins Mark über die Worte ihrer alten Lehrerin. Bin ich denn so leicht durchschaubar?, fragte sie sich. Nein, Ayale will mich prüfen oder sie sieht wieder einmal weit in das Innere eines Wesens. Vielleicht sollte ich mich ihr offenbaren und sie um Hilfe bitten?
»Nein, ich will nicht wissen, was es ist oder was du getan hast«, sagte Ayale plötzlich. »Behalte deinen Schmerz für dich. Ich bin alt und könnte es womöglich nicht mehr ertragen. Wirf deine Schriftrolle endlich in die Urne und denke darüber nach, was ich dir gesagt habe.«
Ayale hob den Deckel der Urne einen Spalt weit an und forderte Elischa noch einmal mit einem Fingerzeig auf, ihren Wahlvorschlag abzugeben. Elischa ließ die Schriftrolle in die Urne fallen und Ayale verschloss diese sogleich wieder.
»Hegoria, hmmm?«, brummte Ayale. »Das hätte ich mir denken können.«
»Wie kommst du darauf?«, Elischa wirkte verdutzt. »Kannst du meine Gedanken lesen?«
»Teils ja, teils nein«, antwortete Ayale aufrichtig, »aber ich kann einige Dinge recht gut zusammenzählen. Ihr habt die Ausbildung gemeinsam durchlaufen. Sie ist stark und ... ehrgeizig. Du mochtest sie von Anfang an und hast ihr geholfen. Aber vergiss nicht, wenn du dich ihr anvertraust. Sie war stets deine Konkurrentin. Du hast es nur nicht bemerkt.«
»Aber ich ...«, wollte Elischa einwenden.
»Vorgeschlagen ist vorgeschlagen«, erstickte Ayale jeden aufkommenden Gedanken an eine Zurücknahme der Schriftrolle im Keim, »die Regeln sind strikt.«
»Noch wurde sie nicht gewählt«, lächelte Ayale vielsagend und zwinkerte Elischa verschmitzt zu, »aber sie könnte gewählt werden.«
Nachdenklich ging Elischa in ihre Kammer zurück. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Ayale sie durchschaut hatte. Wie lange konnte sie ihr kleines Geheimnis noch für sich bewahren? Es gab durchaus einige Orna, die ähnliche Fähigkeiten besaßen wie ihre alte Lehrmeisterin.
Ich kann nicht länger hier bleiben, sagte sie sich, es war ein Fehler, zurückzukommen. Elischa dachte an Flucht. Das Haus der heiligen Mutter war nicht mehr sicher. Aber wie sollte sie das Haus unbemerkt verlassen? Den Mauern zu entfliehen, war unmöglich. Madhrab, ich brauche dich, flehte sie im Stillen, lass uns zusammen fortgehen und das Kind gemeinsam nach Kryson bringen. Sie ließ sich auf ihr Lager fallen und weinte leise in ein mit Gänsedaunen gefülltes Kissen.
*
»Da vorne«, flüsterte Madsick, während er mit der Hand auf das Ziel deutete, »dort um die Ecke, in der letzten Zelle des Ganges bewahren sie Eure Sachen auf.«
Sie waren von den Wärtern und Wachen unbemerkt drei Ebenen des Kerkers weiter nach oben gelangt.
Der Junge ist kaum zu sehen, wenn er sich durch die Gänge bewegt. Das ist unglaublich. Als wäre er nicht körperlich oder nicht von dieser Welt, dachte Madhrab erstaunt. Ohne den Jungen hätte er sich in dem Labyrinth des Verlieses womöglich vollkommen verirrt und Tage gebraucht, bis er die nächste Ebene erreicht hätte. Madsick war hier aufgewachsen. Er kannte jeden Winkel, jede
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