Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Tut-El-Baya. Ihr werdet dorthin zurückkehren müssen, sobald wir Euch geheilt haben. Nicht alle Eure Wunden werden wir vollständig heilen können. Es werden Narben zurückbleiben und auf das Auge werdet Ihr verzichten müssen.«
Malidor hatte nicht richtig zugehört. Alleine bei dem Gedanken an eine Rückkehr in die Fänge der Praister wurde ihm angst und bange. Der Verlust seines Auges war dagegen zu verschmerzen, wenn er bloß nicht wieder in die Folterkammer geschickt wurde.
»Habt keine Furcht, Malidor!«, tröstete der Wanderer. »Ihr werdet nicht als Saijkalsan zurückkehren. Ihr seid jetzt frei und weit mächtiger als zuvor. Sie werden Euch nichts anhaben können. Seht Ihr diese wunderschöne Frau dort?«
Malidors Blick folgte den geisterhaften Bewegungen des Wanderers. Unweit von ihm lag eine junge Frau, die ihm wohlbekannt war. Sie hatte ihre Augen geschlossen und schien zu schlafen.
»Wie wir sehen, kennt Ihr Tallia«, stellte der Wanderer fest, »sie wurde in den heiligen Hallen mit einem magischen Fluch belegt. Der versteinernde Blick einer Hexe brachte sie nur wenig nach Euch in das Land der Tränen und befreite sie zugleich vom dunklen Einfluss des dunklen Hirten. Auch sie wird zurückkehren, sobald wir sie aus der Starre erweckt haben.«
»Sapius, Tallia, ich – was hat das zu bedeuten?«, hakte Malidor nach.
»Ein neuer Zyklus der Lesvaraq hat begonnen. Ihr seid Lehrer, Schüler, Beschützer, Diener und Magier der Lesvaraq zugleich.«
»Aber warum drei von uns? Ich dachte, es gibt nur einen Lesvaraq des Lichts und einen der Dunkelheit.«
»Das stimmt«, bestätigte der Wanderer, »aber das Gleichgewicht ist durch das vorzeitige Erwachen des dunklen Hirten aus den Fugen geraten. Und er hat ganze Arbeit geleistet, um es weiter zu seinen Gunsten zu verschieben. Zum ersten Mal gibt es einen Doppelträger des Zeichens. Die Insignien der Macht weisen auf eine außergewöhnliche Erscheinung hin. Wir wissen nicht, was das für Kryson und das Gleichgewicht am Ende bedeuten wird. Wir erkannten nur, dass ein Lesvaraq sowohl für das Licht als auch für die Dunkelheit steht. Das Gesetz der Macht verlangt, dass beide Seiten in ihm zum Vorschein gebracht werden müssen. Ein zweiter Magier wird daher an seiner Seite streiten. Der Zyklus der Dunkelheit hat bereits begonnen. Tomal und Sapius sind ihre Begleiter. Das Licht jedoch wartet auf Eure Rückkehr. Ihr werdet Kallya, dem Lesvaraq des Lichts, dienen und sie vor dem dunklen Hirten beschützen. Beeilt Euch, bevor es zu spät ist. Tallia hingegen wird sich ebenfalls Tomal anschließen und in ihm den Tag zum Klingen bringen.«
Als der Wanderer Malidor von den Verletzungen geheilt hatte, gingen sie gemeinsam zu einem herabgefallenen Ast des Farghlafat. Es war ein äußerst krummes, knorriges Stück Holz, das kaum als Stab zu bezeichnen war. Malidor würde es sich eher um den Hals legen müssen.
»Hm …«, brummte der Wanderer missmutig, »… nicht so schön wie der Stab des Sapius. Es mutet seltsam an, aber Farghlafat scheint Euch nicht zu mögen. Aber macht Euch nichts daraus, das Holz erhält seine Stärken nicht durch Größe oder Form. Ihr werdet damit zurechtkommen, wenn Ihr es braucht. Nun geht, findet den Weg hinaus aus den Kammern der Praister und sucht umgehend Kallya. Ihr wisst, wo der Lesvaraq zu finden ist. Wir kümmern uns inzwischen um Tallia. Ihr Zustand wird nicht leicht zu beheben sein.«
»Lebt wohl, Wanderer!«, verabschiedete sich Malidor.
»Würden wir leben, wäre dies wohl ein passender Abschiedsgruß«, meinte der Wanderer. »Seid stark und erfüllt Eure Aufgaben, dann wird das Gleichgewicht obsiegen. Vernachlässigt Ihr Eure Pflichten und verliert, dann wird das Chaos auf Kryson regieren und Ihr werdet Euch wünschen, nie geboren worden zu sein.«
Die letzten, mahnenden Worte des Wanderers klangen Malidor noch in den Ohren, als er bereits zurück war und sich unter einem Leinentuch auf einem Tisch liegend in einer anderen Kammer der Praister wiederfand. Er lauschte aufmerksam, ob sich wohl jemand außer ihm in der Kammer befände, konnte allerdings nichts Verdächtiges feststellen. Vorsichtig hob er das Tuch an und spähte mit dem ihm verbliebenen Auge in eine spärlich beleuchtete Kammer. Malidor war alleine. Außer dem unhandlichen Stab des Farghlafat trug er nichts bei sich. Der Magier war splitternackt und beschloss sich als Erstes Kleidung zu besorgen, nachdem er seinen verheilten Körper eingehend betastet und
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