Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
einem nörgelnden und verstümmelten Wrack durchschlagen müssen und wäre dabei fast verhungert. Sie brauchte ihn und seine Todsänger für ihre Zwecke und vor allem zur Befriedigung ihrer Gier nach Macht.
»Vielleicht lasse ich Euch für einen Moment in Ruhe, bis Ihr Euch von der Tortur der vergangenen Monde erholt habt«, sagte Rajuru, der Nalkaars Schweigen und die Reaktion auf ihre Willkommensgrüße nicht entgangen war.
Ihr spöttischer Tonfall gefiel ihm nicht. Sie hatte offenbar keine Vorstellung von den Qualen, die er durchlitten hatte. Wie lange hatte sie ihn im Reich der Schatten schmoren lassen? Er hatte kein Gefühl für die Zeit. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Nalkaar fühlte Hass in sich aufsteigen. Abgrundtiefen Hass gegen die Herrscherin, die ihren treuesten Diener verstoßen hatte. Schlimmer als einen räudigen Hund hatte sie ihn getreten und einem unsäglichen Schicksal überlassen. Statt ihm für die selbstlose Hilfe zu danken, hatte sie ihn den Schmerzen ausgesetzt, die ihn, obwohl sie tatsächlich nicht mehr vorhanden waren, im Geiste spürbar verfolgten und seine Haut unangenehm kribbeln ließen.
Hass war ein Gefühl, das ihm beileibe nicht fremd war und ihm meist in vergangenen Tagen Kraft verliehen hatte. Aber er war zu geschwächt, um gegen Rajuru aufzubegehren. Er brauchte Zeit, um sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln. Doch dafür musste er so bald als möglich um Seelen singen.
Ich weiß nicht, wie sie den Quell der Jugend ohne mich gefunden hat. Aber eines ist gewiss: Sie brauchte die Todsänger, um die Seelen aus den Körpern der Opfer zu locken. Meine Todsänger! Und sie braucht mich, wenn sie sich die Jugend und Schönheit für die Zukunft bewahren will. Unzählige Seelen muss sie in meiner Abwesenheit verschlungen haben, um die Begleiterscheinungen ihres wahren Alters zu verschleiern und die Zeit für sich zurückzudrehen. Aber die Seelennahrung allein reicht nicht aus. Rajuru muss einen weiteren Weg gefunden haben, um ihre einstige Schönheit wiederzuerlangen, dachte Nalkaar bei sich.
Rajurus Leibwächter schleppten den Todsänger in seine Kammer und legten ihn auf ein mit Stroh bedecktes Holzgestell, das mehr einem zu niedrig geratenen Tisch als einem Bettlager glich. Er hatte nie große Ansprüche an seine Bequemlichkeit gestellt. Für gewöhnlich brauchte er keinen Schlaf. Wozu auch? Er war tot. Aber er war froh, sich für eine Weile von den Strapazen ausruhen und nachdenken zu können. Immerhin hatte er einige Gedankengänge nachzuholen und musste sich über das Geschehene ungestört Klarheit verschaffen. Sein Verstand musste sich daran gewöhnen, dass er nicht mehr mit Schmerzen bestraft wurde, wenn er an etwas anderes als an die Flammen der Pein dachte. Wo stand er? Was würde Rajuru von ihm verlangen? Und welches Schicksal erwartete ihn, wenn er der Herrscherin der Rachuren trotz der ungerechten Bestrafung weiterhin die Treue hielt? Seinem Dafürhalten nach viel zu früh wurde er in seinen Überlegungen unterbrochen. Als er jedoch bemerkte, dass Rajuru ihm zwei Klansklaven zur Stärkung schickte, besserte sich seine Laune erheblich. Immerhin wusste Rajuru offensichtlich, wonach ihm der Sinn stand und was er brauchte, um endlich wieder zu Kräften zu kommen. Das war ein gutes Zeichen. Seit Monden hatte er seine Stimme nicht mehr gebraucht und befürchtet, dass er das Singen womöglich verlernt hätte, oder schlimmer noch, seine Stimmbänder in den Flammen der Pein unbrauchbar geworden waren. Nichts dergleichen war eingetreten. Nalkaar sang und er sang so, als ginge es um sein längst erloschenes Leben. Ausgehungert und entkräftet, wie er war, gelang es ihm, beide Seelen gleichzeitig zu erreichen und sich einzuverleiben. Nie zuvor hatte er intensiver gesungen als unmittelbar nach seiner Rückkehr aus den Flammen der Pein. Endlich fühlte er sich besser und war in der Lage, sich aus eigener Kraft zu erheben. In seiner Kammer auf und ab schreitend wartete er darauf, abgeholt und zu Rajuru gebracht zu werden. Er war gespannt darauf, was sie ihm zu berichten hatte.
Ayomaar und Onamaar erschienen wie erwartet, um Nalkaar zu Rajuru zu geleiten. Wortlos und mit finsteren Gesichtern warteten sie mit verschränkten Armen in der Tür zu Nalkaars Kammer, bis dieser ihnen folgte. Die beiden Rachurenkrieger hätten gewiss jeden anderen, von dem Todsänger einmal abgesehen, alleine durch ihre Erscheinung beeindruckt. Sie wirkten gefährlich. Und Nalkaar wusste über die
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