Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
begraben. Lediglich das Wissen um die stete Folter und das Brennen seines Körpers waren geblieben. Am Ende standen der Zerfall und ein Häufchen Asche, das wieder und wieder auferweckt wurde. Es war wie damals, als er auf der Suche nach dem Geheimnis unendlicher Macht und ewigem Leben kläglich gescheitert war, sein Leben und seine Seele leichtfertig im Selbstversuch den Schatten überlassen hatte. Der ständige Frevel wider die Natur zu Lebzeiten hatte ihn nach seinem Ableben in die Flammen der Pein gebracht. Vielleicht war es seine Lehrmeisterin Rajuru gewesen, die ihm die Bestrafung zugedacht hatte. Immerhin hatte er gegen ihre strikte Anweisung und den Kojos zum Trotz gehandelt. Zuzutrauen war es der Hexe allemal.
Er vergaß, wer oder was er war, und glaubte irgendwann, schon immer Teil der Flammen gewesen zu sein. Hatte es etwas anderes gegeben? War er der Schmerz vielleicht selbst? War dies alles wirklich? Konnte ein unsterbliches Wesen auf solch schreckliche Weise leiden und die Pein bis in alle Ewigkeit ertragen? Hatte es diesen einst aufstrebenden Schüler der Saijkalrae je gegeben? Nalkaar war bereits lange tot. Er war so nahe daran gewesen, hätte das Geheimnis des Lebens und des Todes beinahe entschlüsselt, was ihm Macht und ewiges Leben eingebracht hätte. Stattdessen war er zu einem Diener der alten Saijkalsanhexe Rajuru geworden, der Königin der Rachuren. Ein Handlanger einer mit Dunkelheit geschlagenen Hexe zu sein, war nie erstrebenswert für ihn gewesen. Ihm allein sollten Ruhm und Ehre gebühren. Er dachte, er wäre ihr an Intelligenz und Talent weit überlegen, doch ihre Verschlagenheit hatte er nie erreicht.
Den magischen Gesang des Todes hatte er verfeinert und beherrscht wie kein anderer. Und trotzdem war ihm ein Fehler unterlaufen, der ihm den Tod eingebracht hatte. Fatal und schrecklich. Der Unfall hatte geschmerzt. Nicht mehr als die Zeit in den Flammen der Pein, aber immerhin so stark, dass sich ihm die Erinnerung über den Tod hinaus in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Ausgerechnet ihm, dem ganz Ell, womöglich Kryson zu Füßen gelegen wäre. Jetzt war er tot oder zumindest untot oder in einem undefinierbaren Zustand dazwischen, erinnerte sich an nichts, lebte oder starb im Hier und Jetzt. Zu einer anderen Wahrnehmung war er nicht mehr in der Lage. Wenn er doch nur einen klaren Gedanken hätte fassen können. Aber sobald er auch nur an etwas anderes als die Flammen dachte, erhöhten sich die Schmerzen. Bald verschwand auch der Name Nalkaar aus seinem Gedächtnis. Lediglich das nicht abreißende Prasseln der Flammen war zu hören und raubte ihm den Verstand. Das namenlose Opfer konnte sich nicht mehr daran erinnern, weshalb es von den Flammen ohne Unterlass gequält wurde.
Eine Stimme rief einen Namen. Einen Namen, der ihm nichts bedeutete. Erst war es ein Flüstern, dann ein leises Klagen und schließlich ein forderndes Locken. Sie wirkte wie ein fremder Klang und doch war sie ihm auf seltsame Weise vertraut.
»Nalkaar«, rief eine Stimme aus weiter Ferne, so als käme sie aus einer anderen Welt.
Sie durchdrang das Reich der Schatten, durchforstete jeden Winkel, löste den grauen Nebelschleier aus den finstersten Gängen auf der Suche nach dem Todsänger, der sich längst in den Flammen der Pein verloren hatte.
»Nalkaar, komm zurück«, forderte sie.
Der Todsänger verstand nicht, was die Stimme von ihm wollte. Wen rief sie? Woher kam sie? Und wer war jener Nalkaar? Er versuchte sich zu erinnern, kramte in seinen Gedanken und stieß bis in die verborgensten Winkel seines Unterbewusstseins vor. Dort fand er eine schwache Erinnerung an einen ehemaligen Saijkalsan-Schüler, der diesen Namen einst trug. Lediglich ein Fragment, das in der Dunkelheit schlummerte. Er griff danach mit klammen Fingern wie nach einem Stück Planke, das ihn nach einem Sturm im großen Meer des Vergessens vor dem Ertrinken rettete. Er zog die Erinnerung vor sein inneres Auge. Schlagartig wurde ihm bewusst, wessen Name die Stimme rief. Es war sein eigener. Nalkaar war ein Todsänger, weder tot noch lebendig.
»Nalkaar, nimm meine Hand und folge mir!«
Der Todsänger sah die Hand nicht, die er ergreifen sollte.
Verdammt! , dachte das Flammenopfer und schrie stimmlos auf.
Die Schmerzen nahmen augenblicklich zu, als die Flammen die Unaufmerksamkeit des brennenden Mannes bemerkten. Wer wagte es, den Todsänger in seiner Pein zu stören? Er hatte sich ablenken lassen und war für einen Moment aus der ihn
Weitere Kostenlose Bücher