Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
ausgebildet. Sie fielen kaum auf, ließen sich nur selten zu den Mahlzeiten sehen und verbrachten die meiste Zeit des Tages im Archiv des Hauses oder verloren sich in den Weiten des Verlieses.
In den tiefer gelegenen Ebenen häuften sich die mit Gefangenen besetzten Zellen. Manche von ihnen mussten ihrem Aussehen nach schon seit geraumer Zeit in der Gefangenschaft des Verlieses verbracht haben. Aber vielleicht war es ihnen wie Madhrab ergangen, die Dunkelheit des Verlieses, die Kälte, der Entzug von Nahrung und Wasser, die Angst und die Einsamkeit, durchbrochen nur von den Qualen ständiger Folter, ließen einen rasend schnell altern und brachten die Gefangenen rasch den Schatten näher. Der unheilvolle und von Wahnsinn beseelte Blick einer Gefangenen, deren zerschundener und abgemagerter Leib an die Zellenwand angekettet war, bereitete ihm Übelkeit. Ihr leises Jammern und Stöhnen zerriss ihm das Herz. Trotz zahlreicher schlecht verheilter und frischer Wunden wirkte ihr nackter Körper jung, wohingegen ihr Gesicht mit den eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen stark gealtert aussah. Aber das konnte täuschen. Sick hatte gewiss wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Er erinnerte sich an sein eigenes Spiegelbild, das ihm Sick am Ende seiner Folter vorgehalten hatte. Der Lordmaster hatte sich damals selbst nicht wiedererkannt.
Madhrab konnte sich nur schwer vorstellen, was diese Frau verbrochen haben mochte, um auf diese Weise leiden zu müssen. Die anderen Gefangenen, die Madhrab gesehen hatte, waren nicht besser dran. Sie hingen, soweit er das durch die Aussparungen in den verschlossenen Eisentüren hatte erkennen können, meist schlaff an der Wand in ihren Ketten, als hätten sie sich längst aufgegeben. Ihm kam plötzlich der Gedanke, die Gefangenen zu befreien und nach oben zu führen. Aber er durfte sich nicht durch Mitleid aufhalten und von seiner Aufgabe ablenken lassen. Ihm fehlten die Schlüssel und die Zeit, sich diese zu besorgen. Brairac und die Sonnenreiter waren in Gefahr, je länger sie in der Grube verweilen mussten. Kehrte er allerdings bald aus der Tiefe zurück, würde er sich bestimmt darum kümmern und wenigstens den Versuch wagen, gleichgültig was sich die Gefangenen zuschulden hatten kommen lassen. Nichts konnte so schlimm sein, eine solche Behandlung zu verdienen.
Der Lordmaster hatte endlich den Zellentrakt des Verlieses erreicht, in dem er selbst angekettet und gefoltert worden war. Die Luft war klamm und stickig. Es stank erbärmlich hier unten, und er fragte sich, wie er seinen unfreiwilligen Aufenthalt hatte überleben können.
Unmöglich, niemand hält dies länger als einen Tag aus,
dachte der Lordmaster.
Dabei wusste er selbst, dass er mehrere Monde im Verlies verbracht hatte, bevor ihm die Flucht mithilfe Madsicks gelungen war. Gegen die aufkommenden Erinnerungen konnte er sich nicht wehren. Sie waren einfach da, liefen wie Schattenbilder des Schreckens an den Verlieswänden entlang und quälten ihn erneut. Er fühlte sich beschmutzt und verwundbar.
Wo bist Du, Sick?, fragte er sich im Stillen. Komm, lass es uns zu Ende bringen!
»Sick!«, rief er laut.
Die Stimme des Bewahrers hallte durch die Gänge des Verlieses. Wer sich in einer der darüber- oder daruntergelegenen Ebenen aufhielt und nicht an Taubheit litt, musste den Lordmaster gehört haben.
»Sick!«
Nachdem Madhrab erfahren hatte, dass Sick am Leben war, hatte er sich plötzlich gefühlt, als sei noch eine alte Rechnung offen, die er begleichen müsse. Ihm war bewusst geworden, dass er nicht in der Lage war, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sick war ihm viel zu nahe getreten und hatte Grenzen überschritten, die Madhrab niemals vergessen konnte. Der Lordmaster würde nicht eher ruhen, bis er Sick gestellt und zu den Schatten geschickt hatte. Zu tief saßen die Wunden der Folter.
»Sick!«, brüllte Madhrab ein drittes Mal, noch durchdringender als zuvor.
Ein Geräusch in seiner unmittelbaren Nähe, nur wenige Schritt hinter ihm, ließ ihn aufschrecken und in einer raschen Drehbewegung auf einem Fuß herumwirbeln. Seine Reaktion kam keinen Augenblick zu spät. Wie aus dem Nichts sah er eine schwere Eisenstange auf seinen Kopf zuschießen. Es war ein wuchtig geführter Schlag, der ihm ohne Weiteres das Bewusstsein geraubt, wenn nicht sogar den Schädel zerschmettert hätte. Madhrab duckte sich und fing den Schlag mit einer Hand ab. Der Aufprall drohte ihm die Knochen der Hand zu
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