Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
vollstreckende«, antwortete der hohe Vater. »Aber genug davon. Ein letztes Mal frage ich dich im Angesicht des tiefen Abgrundes vor uns: Wirst du nun in die Grube hinabsteigen und dich deinem Schicksal stellen?«
»Das werde ich«, antwortete Madhrab mit fester Stimme.
»Ihr habt es alle gehört! »Öffnet die Grube!«, befahl Boijakmar.
Beim Anblick des sich knarrend und rasselnd öffnenden Gatters überkam Madhrab ein mulmiges Gefühl. Dunkelheit schlug ihm bei näherem Hinsehen entgegen und ein unangenehm modriger Geruch, der den des Verlieses noch übertraf, störte seine Nase. Dennoch zeigte er sich standhaft und bestieg, ohne zu zögern oder zu wanken, die hölzerne Plattform, die ihn gleich in die Tiefe befördern sollte.
»Kehrst du wieder, sollst du frei von jeder Schuld sein«, gab ihm Boijakmar noch einmal mit auf den Weg, bevor er das Handzeichen gab, den Verurteilten hinabzulassen.
»Verlass dich darauf«, rief Madhrab, der sich bereits im Absinken befand, »ich komme wieder und werde dich an dein Wort erinnern, solltest du es vergessen haben.«
Mit jedem Fuß, den die Plattform weiter in die Tiefe sank, schwand das flackernde Licht des von oben kommenden Fackelscheins. Die Plattform schwankte und ruckelte entlang der rau gehauenen Felsenwände, die er mit den Fingern zu erfassen suchte. Dabei entdeckte er den ein oder anderen Spalt, der sich womöglich eignete, mit Händen und Füßen Halt darin zu finden. Es war also nicht ausgeschlossen, dass er daran emporklettern könnte, auch wenn die Dunkelheit ein Vorwärtskommen beinahe unmöglich machen sollte.
Madhrab fragte sich, wer dieses Loch einst geschaffen hatte und welchem Zweck es ursprünglich diente, bevor der Orden das Haus gebaut und zu einem Schicksal in der Grube verurteilte Gefangene in die Tiefe schickte. Seine Augen gewöhnten sich auf dem Weg abwärts an die Dunkelheit, und er stellte zu seinem Erstaunen fest, dass er durchaus in der Lage war, etwas wie durch einen dunklen, grauen Schleier zu erkennen. Er hatte sogar den Eindruck, dass, je weiter er dem Grund der Grube entgegenkam, die Lichtverhältnisse besser wurden. Die Felswände strahlten in der Tiefe aus sich heraus ein eigenartiges gedämpftes Licht aus. Es war kein warmes, aber auch kein kaltes Licht, sofern es denn überhaupt ein Licht zu nennen war, da es eher wie ein grauer Nebel wirkte, der sich von seiner Umgebung ein wenig heller abhob, dem Bewahrer aber dadurch ein Gefühl für Entfernungen und Größenunterschiede vermitteln konnte. Ob dies der Wirklichkeit entsprach oder bloß eine Täuschung seiner Sinne war, vermochte Madhrab nicht abschließend zu beurteilen. Vielleicht begann der Einfluss des Herrn der Grube bereits zu wirken, noch bevor er den Grund erreicht hatte. Madhrab erschauderte bei der Vorstellung, diese für ihn unbegreifliche Kreatur könnte schon begonnen haben, von seinen Gedanken Besitz zu ergreifen.
Je tiefer die Plattform sank, desto feuchter und glitschiger fühlten sich die Wände unter seinen Händen an.
Die Wände schwitzen , dachte Madhrab und roch an seinen Fingern, die sich merkwürdig klebrig anfühlten , aber es kann kein Wasser sein. Was ist das? Es riecht nach … Blut, altem Blut.
Angewidert wischte der Bewahrer die Hände an seinem Hosenbein ab und vermied für den Rest des Weges jede weitere Berührung mit den Wänden. Der Abstieg mit der langsam sinkenden Plattform zog sich. Erst jetzt wurde dem Lordmaster bewusst, wie tief die Grube sein musste. Wer sich aus eigener Kraft befreien wollte, musste sich den Weg nach oben an senkrechten und rutschigen Felswänden entlang nicht nur blind suchen, sondern genügend Kraft und Geschicklichkeit mitbringen, um die gewiss mehr als tausend Fuß Höhenunterschied zu überwinden. Ein Gefühl der Panik überkam ihn. Der Aufstieg war nicht zu schaffen, selbst für einen mehr als geübten Kletterer stellte dies eine unüberwindliche Hürde dar. Sein Herz schlug bis zum Hals, sein Atem ging stoßweise und zu schnell. Viel zu schnell. Madhrab war verloren. Der Gedanke überfiel ihn plötzlich und völlig unvorbereitet, ging mit einer Beklemmung einher, die ihm das Herz zusammenschnürte und den Atem nahm. Die Wände schienen ihn regelrecht zu erdrücken, wurden enger und enger. Er wusste, dass dies nur ein Gefühl war, das er aber nicht ohne Weiteres abzuschütteln vermochte. Für einen Moment setzte er sich auf den Boden der Plattform und fasste sich nach Atem ringend an die Brust. Einige Male
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