Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
voller Steine, »… habe ich dich erwischt.«
Madhrab wusste, dass dies die Stimme des Gedankenschinders war, der sich ihm nach etlichen vehementen, aber erfolglosen Angriffen auf seinen Geist zum ersten Mal offen zeigte.
»Was willst du?«, fragte Madhrab.
»Alles«, antwortete der Herr der Grube, »ich will frei sein und du wirst mir dabei behilflich sein. Deine Gedanken und Erinnerungen. Gib sie mir. Sie nähren mich und geben mir die notwendige Stärke, der Grube zu entsteigen. Wehre dich nicht länger dagegen. Ich beobachte und kenne dich schon lange. Ich wusste, dass du eines Tages kommen wirst. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, auf den ich so lange warten musste.«
»Ja«, sagte Madhrab überraschend, »ich werde mich öffnen …«
Der Bewahrer schuf eine Lücke in seiner Barriere und ließ den Gedankenschinder eindringen. Aber Madhrab gab nur die Erinnerungen an seine dunkelsten und schmerzreichsten Tage preis. Seinen Kampf gegen die Rachuren in der Schlacht am Rayhin, die von eigener Hand getöteten Kameraden, Gwantharabs Ende, den Verrat durch die Ordensbrüder, die Gefangennahme und die darauf folgenden Monde der Folter, die Flucht vor den Häschern, den Verlust der eigenen Familie, sein Erlebnis in den Schatten und den Tod eines guten Freundes. Gedanken, die für einen Normalsterblichen kaum zu ertragen waren. In der Hoffnung, der Herr der Grube würde von den Schmerzen überwältigt werden und sich getroffen zurückziehen, ließ Madhrab die Bilder des Schreckens an seinem inneren Auge vorbeiziehen und schleuderte sie dem Gedankenschinder entgegen. Doch das Gegenteil dessen, was Madhrab erwartet hatte, geschah. Der Herr der Grube labte sich an den schrecklichen Erinnerungen des Bewahrers.
»Mehr … gib mir mehr«, lechzte der Gedankenschinder entzückt. »Oh, wie gut das tut. Das ist die beste Nahrung, die ich je hatte.«
»Was bist du für eine boshafte Kreatur, die aus solchen Bildern ihre Kraft zieht?«, fragte Madhrab erschrocken.
Der Gedankenschinder lachte laut auf. »Einst gehörte ich zum Volk der Burnter. Ich fand Gefallen an den Gedanken der anderen und schulte meine Fähigkeiten, den Steinen zu lauschen und in den Köpfen anderer zu lesen, bis zur Vollendung. Doch die Felsgeborenen verstießen und verspotteten mich angesichts meiner Gabe, sie verpassten mir den wenig ruhmvollen Namen eines Gedankenschinders. Auf der Flucht vor dem Volk der Altvorderen begegnete ich einem mächtigen Lesvaraq. Sein Name war Ulljan. Er zeigte sich an meiner Gabe höchst interessiert und besuchte mich des Öfteren im Riesengebirge, um von mir zu lernen. Dort hatte ich eine sichere Zuflucht gefunden. Doch eines Tages änderte Ulljan seine Einstellung. Ich war selbst daran schuld. In einem unachtsamen Moment des Lesvaraq, hatte ich mir seine Gedanken zunutze gemacht und von seiner herrlichen Macht gekostet. Dabei entlockte ich ihm ein düsteres Geheimnis. Ertappt und zornig zwang er mich eine Grube auszuheben. Tief und gewaltig sollte sie sein. Weit unter der Oberfläche schuf ich ein Labyrinth nach seinen Vorstellungen. Ein Gefängnis, das ich mir selbst mit den angeborenen Fähigkeiten der Felsgeborenen erbauen musste, denn töten konnte und wollte er mich nicht. Das Gleichgewicht verbot ihm eine solche Tat. Dennoch konnte ich seiner Macht nicht widerstehen. Er ließ mich spüren, welche Qualen mich erwarteten, sollte ich es wagen, mich seinem Willen zu widersetzen. Ein schrecklicheres Schicksal, als auf Ewigkeit in den Flammen der Pein schmoren zu müssen, drohte mir Ulljan an. Ihm blieb nichts anderes übrig, denn zu weit war ich bereits in meiner Stärke vorangeschritten und hatte mich zu einem eigenständigen und mächtigen Wesen des Gleichgewichts entwickelt. Aber ich wusste zu viel und war eine Gefahr für seine Pläne, also schloss er mich ein und verbannte mich in die Grube. Eine Grube, die nichts anderes als mein eigenes Grab war. Lebendig begraben hat er mich. Oh, er konnte ein gar grausamer Erzmagier sein, eigensinnig und besessen von seinen Allmachtsfantasien. Auf die Grube ließ er das Ordenshaus bauen, damit ich nicht eines Tages unbemerkt doch entweichen könnte. Seit jenen Tagen friste ich mein Dasein hier unten und nähre mich von den Gedanken und Erinnerungen der Verurteilten, die mir die Bewahrer schicken. Es sind böse und dunkle Erinnerungen, die sie mir geben. Sie handeln von Mord, Vergewaltigung, Totschlag und noch weit schrecklicheren Taten. Ich kann dir Tausende von ihnen zeigen,
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