Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
begrüßen.
»Ich glaube, das gehört unzweifelhaft Euch, Lordmaster«, sagte Yilassa mit unveränderter Miene, »ich habe es die ganze Zeit für Euch aufbewahrt in der Hoffnung, Ihr würdet es eines Tages wieder an Euch nehmen. Jetzt ist es so weit. Vielleicht kein feierlicher, aber ein für mich bewegender Moment.«
»Solatar«, flüsterte Madhrab, »wir werden Elischa suchen und diejenigen richten, die sich uns dabei in den Weg stellen, und diejenigen unter ihnen, die ihr etwas angetan haben.«
Ein leichtes Zittern ging durch die Klinge, so als ob sie dem Bewahrer zeigen wollte, dass sie sich auf das Blut und die Seelen ihrer Opfer freute und lange voller Ungeduld auf den Kampf gewartet hatte.
Das Zimmer des Overlords war abgedunkelt worden. Die wässrig trüben Augen vertrugen das Tageslicht schon lange nicht mehr. Der steinalte Mann lag bis zum Hals zugedeckt unter einer warmen Felldecke. Dennoch zitterte Boijakmar vor Kälte, als läge er seit Horas nackt im eisigen Wasser. Hätte er noch Zähne sein Eigen nennen können, hätten diese laut geklappert. Aber so vibrierten die leicht geöffneten Lippen vor einem zahnlosen Mund. Die Nasenspitze, Lippen und Fingerkuppen waren dunkelblau, nahezu schwarz. Abgestorbenes Fleisch, das nur darauf wartete, abzufallen und vollends zu verwesen. Der Gestank der Verwesung zog sich unangenehm durch die Kammer und lockte die Schatten in die Nähe seines Lagers, obwohl er noch am Leben war. Der einst stolze und starke Bewahrer war nur noch ein Schatten seiner selbst. Das Gesicht eingefallen, die Arme und Beine spindeldürr. Er drehte langsam den Kopf, um besser sehen zu können, als sich die Tür öffnete und Yilassa, gefolgt von einem älteren Mann mit langer Haarpracht und Rauschebart die Kammer betrat. Als hätte der Overlord die geistige Präsenz des unvermuteten Besuchers gespürt, erschrak er heftig und versuchte sich sogleich unter der Felldecke zu verstecken. Aber selbst dafür war er zu schwach und konnte sich kaum regen.
»Wovor fürchtest du dich, Vater?«, sagte Madhrab zur Begrüßung. »Die Schatten greifen ohnehin nach dir. Was könnte ich dir antun, was nicht ohnehin bald von selbst geschieht?«
»Madhrab«, die Stimme klang schwach, höher als Sonnenwenden zuvor, und vor allem uralt, mehr nach einem leisen Wispern als nach einem Laut.
»Ja, Vater«, sagte Madhrab, »ich kam, dich ein letztes Mal zu sehen, bevor du zu den Schatten entweichst.«
»Du bist der Grube tatsächlich entkommen«, sagte Boijakmar klaren Verstandes, »wer hätte das gedacht. Andererseits, wer außer dir hätte es schaffen können? Es war dumm von mir, zu glauben, du könntest den Herrn der Grube nicht überwinden.«
»Schon möglich, aber es hat lange gedauert. Du und der Herr der Grube habt mir meine Zeit und einen wichtigen Teil meines Lebens geraubt. Gib sie mir wieder, Boijakmar.«
Der alte Bewahrer kicherte, sein ganzer Körper schüttelte sich dabei. Sein Kichern endete in einem schrecklichen Hustenanfall, bei dem er beinahe erstickte und einen blutigen Schleimklumpen hervorwürgte.
»Die verlorene Zeit ist unwiederbringlich verloren, mein Sohn«, stellte Boijakmar fest. »Es tut mir leid, aber du hättest in der Grube bleiben und sterben sollen, dann hättest du nicht bemerkt, wie dein Leben nutzlos verstreicht. Aber du musstest dich dagegen wehren, wie du dich gegen alles andere gewehrt hast. Das hast du nun davon. Du bist zurück, hast einen Teil deines Lebens verloren und wirst bis zum Ende deiner Tage unglücklich sein.«
»Und was ist mit dir, Vater?«, erwiderte Madhrab. »Hattest du ein erfülltes Leben? Bist du glücklich, deinen Sohn und alle anderen hintergangen zu haben? War das den Verrat wert? Die Schatten lauern auf dich. Welches Ende erwartet dich dort? Denkst du, sie werden dir die ewige Ruhe gönnen nach allem, was du getan hast?«
»Nein«, krächzte der hohe Vater, »sieh mich doch an, Madhrab. Ich habe mein Leben dem Orden gewidmet und dabei auf vieles verzichtet, was ein erfülltes Leben bedeutet. Aber das war meine Bestimmung. Bis zuletzt war ich davon überzeugt, das Richtige zu tun. Für den Orden. Für das Erbe des Ulljan. Darauf habe ich einen Eid geschworen, als ich noch sehr jung war. Ich musste Opfer bringen, die meinen Geist, meine Seele und mein Herz schwer belasteten. Eines davon warst du, sosehr mich der Verlust meines Sohnes auch schmerzte. Wir unterscheiden uns in unserem Denken und Handeln nicht so sehr, wie du denkst, mein
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