Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Pflaster bis zum nächsten Hauseingang. Die Tür stand glücklicherweise offen, hing sie doch halb herausgerissen und schief in den Angeln. Mit dem Kopf voran schob sich Raussa durch den Türspalt. Im Inneren des Hauses war es stockfinster. Sie konnte nicht einmal die eigene Hand vor Augen sehen. Ein aufdringlicher Verwesungsgestank schlug ihr entgegen, sobald sie den Kopf durch die Tür gestreckt hatte. Sie tastete sich vorsichtig an der Wand entlang weiter nach innen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie mit den Händen auf einen leblosen Körper stieß, dessen Haut sich kalt und schwammig anfühlte. Ohne jeden Zweifel verbreitete der Tote einen Teil des Gestankes im Haus. Sie hatte versehentlich in offene Wunden gegriffen und zog rasch und angewidert ihre Hand mit einem schmatzenden Geräusch zurück, das ihr eine Gänsehaut über den zerschlagenen Rücken jagte. Die Wundränder des Toten hatten sich nass und glitschig angefühlt – der Leichnam war angefressen worden.
Das Jaulen aus der Gasse kam näher. Die Kranken, die sich auf die Jagd nach den letzten Gesunden machten und sich in ihrer Not zusammengerottet hatten, verständigten sich häufig über die rufenden Laute, die sie in ihren noch intakten Kehlen erzeugten, weil die Seuche ihnen oft bereits die Zungen und Lippen zersetzt hatte. Der Hunger trieb sie, und solange sie noch laufen oder kriechen konnten und nicht im letzten Stadium der Krankheit in einer Art Delirium dahinsiechend auf die Schatten warteten, entwickelten sie erstaunlicherweise enorme Kräfte und Geschwindigkeiten. Ohnehin reduzierte die Geißel der Schatten neben äußerlich unschönen Entstellungen ihren Verstand auf den Instinkt eines Tieres. Das war für die Opfer der Seuche bestimmt besser so, da sie nicht mehr mitbekamen, was aus ihnen wurde, wenn sie ihre Identität und ihren Verstand allmählich verloren.
Vorsichtig kroch Raussa weiter in die Dunkelheit hinein. Sie stieß dabei mit einer Ratte auf Nahrungssuche zusammen, die sofort laut quiekend ihre Gefährten alarmierte. Plötzlich kamen aus allen Richtungen Ratten angelaufen, die das frische Blut gewittert hatten und sich auf die Regentin stürzten, als wäre sie bereits tot und lediglich ein Stück lebloses Fleisch, an dem sie sich laben konnten. Sie wehrte sich nach Kräften, schlug um sich, packte die wendigen Leiber am struppigen Fell und schleuderte einige gegen die Wand. Aber sie hatte große Mühe, sich der hungrigen Tiere zu erwehren, die nicht von ihr lassen wollten und sich in ihre Wunden verbissen. Raussa hätte vor Schmerzen schreien können, aber sie hielt sich aus Angst vor Entdeckung durch die in den Gassen lauernden Seuchenopfer zurück und brachte stattdessen nur ein leises Stöhnen hervor. Ihr Atem ging schnell und sie biss sich auf die Zunge, als sie die Ratten von ihrem Bein riss und von sich schleuderte. Gerade als die Flut der Ratten endlich nachlassen wollte und nur noch wenige Tiere nachströmten, machte sich jemand an der Tür zum Hauseingang zu schaffen. Vor Entsetzen erstarrt blickte Raussa zurück und erkannte die Silhouetten zweier Gestalten, die sich gleichzeitig durch die Tür drücken wollten, sich dabei aber gegenseitig im Weg standen. Wie rasend versuchte eine der beiden Gestalten, die Tür vollends aus den Angeln zu heben. Raussa stellte sich tot, legte sich hinter dem Leichnam flach auf den Boden und presste ihren Körper, so dicht sie konnte, an die Hauswand, wobei sie ihr verletztes Bein zu schützen suchte. Das gelang ihr jedoch nur teilweise. Sie hielt den Atem an und versuchte jedes Geräusch zu unterdrücken. Dabei musste sie sich ruhig verhalten und die übrig gebliebenen Ratten gewähren lassen. Während die Ratten an ihrem Bein nagten und ihr mit spitzen Zähnen Fleischstücke aus den Wunden rissen, ballte Raussa die Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handinnenflächen, bis diese bluteten. Durch den Gegenschmerz versuchte sie sich von den Rattenbissen abzulenken. Die Tür fiel mit einem lauten Krachen nach innen und mit ihr stürzte eine der Gestalten in den Hausflur. Andere Kranke drängten von außen nach. Manche von ihnen trugen Fackeln bei sich, deren Flackern ein gespenstisches Licht auf die entstellten Gesichter warf. Sie jammerten, stöhnten, heulten und kreischten, als sie sich in dem Hausflur umsahen. Ihre Blicke verrieten trotz des sie treibenden Irrsinns Enttäuschung über den Fund. Aufgrund der Geräusche aus dem Hausinneren waren sie sich
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