Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
die Schatten regieren und die Hungrigen nach frischem Fleisch Ausschau halten. Niemals!« Der junge Adlige zitterte am ganzen Leib.
»Ihr werdet gehen, wenn ich es sage. Das ist mein letztes Wort«, schloss Thezael den Disput.
Der Höfling ließ den Kopf hängen. Er war dem Praister in keiner Hinsicht gewachsen und musste sich in sein Schicksal fügen. Raussa hingegen hatte sich inzwischen zornig von ihrem Kissenlager erhoben und war dicht an Thezael herangetreten, während dieser sich mit dem Höfling beschäftigt hatte. Sie wirkte plötzlich ganz nüchtern, so als habe sie über die Tage der Feier weder Rauschmittel noch Wein oder Gebranntes zu sich genommen. Sie schob ihren aufreizenden Körper zwischen ihren Liebhaber und Thezael. Er konnte ihre Hitze und die Rundungen durch den Stoff seines Gewandes spüren. Sie roch nach blumigem Körperöl, Schweiß und dem süß-säuerlichen Nektar ihrer Liebhaber.
»Was erlaubt Ihr Euch, Praister«, fauchte sie Thezael an, »ich bin die Regentin der Klanlande und Herrin in diesem Palast. Niemand belästigt meine Gäste. Auch Ihr nicht. Ihr wart der Berater meines Vaters. Doch meiner seid Ihr nicht. Ich ließ Euch rufen, um Euch mitzuteilen, dass ich Euch aussende, dem Schrecken der Geißel ein Ende zu machen. Ihr werdet in das Haus der heiligen Mutter gehen und die Orna um ein Heilmittel für die Krankheit bitten.«
Thezael glaubte sich verhört zu haben. Raussa schickte ihn weg. Er war der oberste Praister, wie konnte sie es wagen, ihn, einen heiligen Mann der Kojos, für Botengänge zu missbrauchen. Ein Diener, ein Krieger oder eine Wache hätte diese Aufgabe übernehmen können. Vielleicht ein Novize, der auf die Weihe zum Praister wartete, aber nicht der oberste Praister selbst. Sie musste vollkommen von Sinnen sein, wenn sie ihm dies vor dem versammelten Hofstaat auftrug. Ihr Wunsch war mehr als eine Missachtung seiner Stellung am Hofe. Es war eine Demütigung.
»Schickt Euren Diener Darfas«, regte sich Thezael auf, »er war sonst recht zuverlässig und ganz offensichtlich habt Ihr das größte Vertrauen in seine Dienste.«
»Nein«, schrie Raussa mit schriller Stimme und stampfte barfüßig auf, »Ihr werdet gehen. Ich befehle es und dulde keine Widerrede.«
Thezael schüttelte den Kopf. Er musste diesem Spiel endlich ein Ende machen und suchte deshalb die offene Konfrontation.
»Wachen …«, befahl er. »Nehmt die Tochter des Regenten in Gewahrsam. Ich übernehme inzwischen die Geschäfte des Regenten so lange, bis wir einen Neuen gefunden haben.«
»Wachen …«, konterte Raussa, » ich bin die Regentin. Ihr untersteht mir und nicht dem Praister. Tötet ihn! Seht Ihr denn nicht, was geschieht? Er will mich stürzen und die Regierungsgeschäfte an sich reißen.«
»Unsinn, ich will retten, was zu retten ist. Nehmt sie gefangen!«, beharrte Thezael auf seiner Anordnung.
Die Wachen zögerten. Sie wussten nicht, was richtig oder falsch war. Wer war stärker? Auf wen sollten sie hören, ohne einen Fehler zu begehen, der ihnen am Ende selbst zum Verhängnis werden konnte. Sie mussten Farbe bekennen und konnten sich doch nicht entscheiden. Wessen Befehl sollten sie Folge leisten. Die Entscheidung war schwierig, denn folgten sie den Gesetzen der Klanlande, hatten sie keine Wahl und mussten Raussa gehorchen. Schlugen sie sich auf die Seite der Regentin, würden im Kristallpalast wilde, von Raussa inszenierte Feiern auf sie warten. Der Nachteil daran war, dass sie möglicherweise nicht lange Freude daran hätten, wenn der Praister mehr Anhänger um sich scharen konnte und mächtig genug war, die Regentin zu vertreiben. Hinzu kam, dass sie ihnen keine Hoffnung auf die Überwindung der Schrecken bot. Ihre Zeit der Herrschaft konnte über kurz oder lang im Chaos enden. Die Vorstellung über ein Leben in Saus und Braus war zwar verlockend, aber eben nicht alles. Entschieden sie sich für die von Thezael erteilte Weisung, waren sie sich nicht sicher, ob Raussa tatsächlich stark genug war, sich dem Praister zu stellen und ihn mit ihren Anhängern zu überwinden. Sie hatte die Regentschaft erst vor wenigen Monden nicht unter den besten Voraussetzungen angetreten und bislang nicht bewiesen, dass sie in der Lage war, die Klanlande aus den fortwährenden Katastrophen und Krisen herauszuführen. Im Gegenteil, ihr Verhalten deutete vielmehr auf eine Resignation hin.
Plötzlich breitete Thezael die Arme aus und rief ein einziges Wort:
»Schatten …!«
Er sah sich
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