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Kryson 04 - Das verlorene Volk

Titel: Kryson 04 - Das verlorene Volk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Rümmelein
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erinnerte sich gut daran, welche teils unangenehmen Fragen ein Fremder einst über sich ergehen lassen musste, wenn er um Einlass in die Häuser bat. Ohne guten Grund und einen konkreten Nachweis der Identität hatte niemand eintreten dürfen. Und Elischa war eine Fremde. Heute. Offenbar fürchteten sich weder die Bewahrer noch die Orna in diesen Tagen vor unangenehmen Besuchern. Boijakmar war ein vorsichtiger Mann gewesen.
    »Wie sich die Zeiten doch ändern«, dachte Elischa verwundert bei sich.
    Die Orna musste für einen Moment stehen bleiben. Sie atmete schwer. Auf unsicheren Beinen schwankend stützte sie sich mit einer Hand an der Mauer ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und womöglich zu stürzen.
    Sie hatte sich nicht vorstellen können, eines Tages in das Haus der heiligen Mutter zurückzukommen. Im ersten Augenblick kam es ihr vor, als begäbe sie sich freiwillig in ein Gefängnis und ließe sich lebendig hinter den dicksten Mauern auf Ell begraben. Dabei war sie im Ordenshaus aufgewachsen und hatte einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend hier verbracht. Einst hatte sie sich im Haus der heiligen Mutter wohl- und sicher gefühlt. Einst war es ihr Zuhause gewesen.
    Zu Hause, das hörte sich so wunderbar an. Endlich wieder zu Hause. Sie hätte jubeln sollen. Dennoch war ihr zum Weinen zumute. Viel hatte sich seit jenen durchaus glücklichen Tagen ereignet. Schreckliches. Kaum fassbares Unglück, Verderben und Frevel. Die heilige Mutter war brutal ermordet worden, und sie selbst – so sah sie es zumindest heute – trug einen Teil der Schuld daran. Vielleicht war sie zu egoistisch gewesen. Hatte ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse denen des Ordens und ihrer Schwestern vorangestellt.
    Den Krieg und die Zeit der Dämmerung hatte sie irgendwie überstanden. Mit Blessuren und Schmerzen überlebt. Blickte sie heute auf jene dunklen Tage zurück, kamen sie ihr unwirklich und fern vor. Waren sie jemals geschehen? Doch dann holten sie augenblicklich ihre schmerzlichsten Erinnerungen wieder ein, und sie wusste sofort, dass sie nichts davon geträumt hatte. Das Leid war echt und allzeit präsent.
    Elischa hatte die Ordensregeln für die Liebe ihres Lebens verletzt, ihre Schwestern verraten und ihre eigene Sicherheit geopfert. Sie hatte schließlich dafür bezahlt und gelitten. Die Orna erinnerte sich noch gut an die Worte der alten Ayale, die ihr damals gesagt hatte, dass sie nach ihrem Bruch niemals wieder zurückkehren konnte. Nun hatte sie es entgegen allen Vorsätzen doch gewagt, nachdem sie irgendwann in den Sümpfen festgestellt hatte, dass ihre Liebe zu Madhrab keine Zukunft besaß und niemals eine besessen hatte. So lange hatte sie an diesem Glauben festgehalten. Oft hatte sie darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn sie und Madhrab ihren Gefühlen nicht nachgegeben hätten. Wäre dies überhaupt möglich gewesen? Elischa wusste, dass sie längst zu den Schatten gegangen wäre, hätten sie die Liebe zu Madhrab und ihre Hoffnung auf seine Rückkehr nicht am Leben gehalten. Und doch wollte ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf gehen – hätten sie sich nicht ineinander verliebt und die Regelngebrochen, könnten sie noch heute als Letztgänger und Orna zusammen sein. Vielleicht wäre alles besser geworden. Doch im Grunde war es müßig, sich darüber den Kopf zu zermartern. Ändern ließ sich die Vergangenheit doch nicht mehr. Und Elischa durfte nicht vergessen, dass ihr gemeinsamer Sohn ein Lesvaraq war. Der Bund mit Madhrab hatte die Zukunft Krysons entscheidend beeinflusst.
    Die Orna hatte die Verbindung mit dem Haus der heiligen Mutter in den Sümpfen zurückerlangt. Sie hatte zwar nicht sehen können, was sich dort ereignete, aber ein Gefühl sagte ihr, dass sie gebraucht wurde. Es kam einem Hilferuf gleich, den die Schwestern ausgesandt hatten. Sie musste ihm folgen. Elischa war nach wie vor eine Orna und das würde sie immer bleiben, selbst wenn sie dem Orden einst den Rücken gekehrt hatte. Sie war geflohen, hatte für Madhrab und ihren damals noch ungeborenen Sohn all das zurückgelassen, was ihr etwas bedeutet hatte. Wäre sie nicht in anderen Umständen gewesen, sie hätte die Nachfolge der heiligen Mutter antreten können. Aber so konnte sie der Strafe entgehen, die nach dem Bruch der Ordensregeln auf sie gewartet hätte. Und niemals hätte sie Tomal behalten oder ihre Verbindung zu Madhrab aufrechterhalten dürfen.
    »Es hätte keinen Unterschied gemacht«, dachte Elischa

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