Kryson 04 - Das verlorene Volk
stimmten sie murrend zu und verließen die Kammer, um vor der Tür auf Elischa zu warten.
Elischa zog die Kleidung aus, die sie im Bett getragen hatte, wusch sich in einer Schüssel mit kaltem Wasser die Müdigkeit aus den Augen und nahm einen Tropfen der zugleich bitter, scharf und faulig schmeckenden Essenz zu sich. Der Geschmack breitete sich in ihrem Mund bis zum Gaumen aus. Ihr wurde übel. Aber sie beherrschte sich und behielt ihren Mageninhalt bei sich. Die Wirkung der Essenz setzte rasch ein. Elischa fühlte sich plötzlich stark. Sie richtete sich auf, schritt barfuß und nackt durch Tür.
»Ich bin bereit«, sagte sie mit klarer und kräftiger Stimme.
»Gut, dann kommt endlich. Denn wir sind es schon lange«, lachte Milana.
»Die Zuschauer warten bereits ungeduldig auf Eure und unsere Vorstellung«, meinte Laraya.
Elischa hatte sich vorgenommen, die Zähne zusammenzubeißen und nicht zu schreien. Nackt vor die Menge zu tretenmachte ihr nichts mehr aus. Sie hatte so viele Erniedrigungen in ihrem Leben ertragen müssen, dass ihr diese im Vergleich unbedeutend erschien. Trotzdem schlug ihr Herz bis zum Hals, als sie aus dem Haus der heiligen Mutter traten und geradewegs auf die davor aufgestellten Richtpfähle zusteuerten. Rings um den Vorplatz hatten sich ihre Ordensschwestern, Bewahrer und Sonnenreiter aufgestellt, um die Verurteilte schweigend zu empfangen. Elischas Augen wanderten flüchtig über die Zuschauer. Sie konnte weder Ayale noch die heilige Mutter entdecken. Hegoria war sicherlich zu schwach, um ihre Kammer zu verlassen. Selbst auf einer Trage wäre sie in ihrem schlechten Zustand nicht in der Lage gewesen, der Vollstreckung des Urteils zu folgen. Ayale hingegen hatte ihr mitgeteilt, dass sie sich die Qualen der Geißelung keinesfalls ansehen werde. Elischa erblickte neugierige, belustigte, schadenfrohe, traurige und gespannte Gesichter. Manche waren blass und nachdenklich, andere wirkten nervös, geradezu erschrocken, als warteten sie auf ihre eigene Geißelung. Wieder anderen war das schlechte Gewissen überdeutlich anzusehen. Diejenigen Beobachter, die sich in Vorfreude auf die Geißelung ein Lächeln nicht verkneifen konnten, waren eindeutig in der Minderzahl, wie Elischa feststellte. Das machte ihr Mut.
Vor einem Tisch, auf dem die Marterwerkzeuge ausgestellt waren, saß Reela und sah den Ankömmlingen strengen Blickes entgegen. Vor Reela blieben sie stehen. Die über die Geißelung Aufsicht führende Orna erhob sich und sah Elischa direkt in die Augen.
»Bringen wir es hinter uns«, sagte Reela an Elischa und die Vollstreckerinnen gewandt. »Seid Ihr vorbereitet? Kein großes Aufsehen, keine Übertreibung, keine Schläge ins Gesicht. Verstanden?«
Die knappen Anweisungen galten Milana und Laraya. Die Vollstreckerinnen sahen sich an, lächelten und nickten.
»Gut«, meinte Reela offenbar zufrieden darüber, dass ihre Botschaft angekommen war, »bindet die Verurteilte zwischen die Pfähle.«
Laraya gab Elischa mit dem Ellbogen einen Stoß zwischen die Rippen, der ihr bedeuten sollte, sich zu den Pfählen zu bewegen, von denen in mittlerer Höhe links und rechts jeweils Eisenketten baumelten. Sie befestigten die Eisenketten an Elischas Handgelenken, sodass sie mit leicht nach oben ausgestreckten Armen zwischen den Pfählen stand.
Die Vollstreckerinnen traten an den Tisch zurück und nahmen sich jede einen eisernen Stab. Der Richtstab des hohen Gerichts. Die Tortur begann.
Elischa hörte die Reelas Stimme laut zählen:
»Eins …«
Der erste Schlag krachte mit Wucht seitlich auf ihren Rücken. Elischa wusste nicht, wer ihn geführt hatte. Das spielte keine Rolle. All ihre guten Vorsätze, nicht schreien zu wollen und das Martyrium in Würde zu überstehen, waren plötzlich dahin, als sie hörte und überaus schmerzlich spürte, wie ein Rippenknochen brach. Ihre Knie wurden weich und gaben nach. Sie stürzte, aber die Eisenketten hielten sie hängend zwischen den Pfählen fest. Elischa senkte den Kopf. Der Schmerz hatte ihr Tränen in die Augen getrieben. Dennoch hatte sie außer einem Stöhnen keinen Laut von sich gegeben. Ein Zischen und Raunen ging durch die Menge der Zuschauer. Elischa konnte ihre Reaktion nicht einordnen. Klang es nach Entsetzen oder Begeisterung?
»Zwei …«
Der zweite Schlag von der anderen Seite schmerzte nicht weniger als der erste. Aber sie hatte Glück und ihre Knochen hielten dieses Mal der Belastung stand. Elischa biss sich auf die Unterlippe,
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