Kryson 04 - Das verlorene Volk
Knochen reichte. Der Richtplatz zwischen den Pfählen hatte sich zu einer roten Pfütze verwandelt, auf dem weitreichend ringsherum Blutspritzer verteilt waren. Ein Hieb traf Elischa überraschend im Mundwinkel. Das Zurückreißen der Geißel schlitzte ihr die Wange bis zum Ohr auf und legte ihre obere Zahnreihe frei. Doch sie nahm die schwere Verwundung nicht mehr bewusst wahr. Die Zuschauer schrien vor Entsetzen auf. Einige Schwestern wollten sich wütend auf die Vollstreckerinnen stürzen, wurden jedoch von den Bewahrern zurückgehalten.
»Halt!«, rief Reela und hob die Hand. »Es reicht. Ich hatte Euch angewiesen, nicht ins Gesicht zu schlagen, oder wollt Ihr Elischa absichtlich entstellen? Ihr seid auf der Stelle abgelöst. Noch zwei Hiebe, doch die werde ich selbst vornehmen.«
Reela packte sich die Geißel von Milana und stieß ihre wesentlich jüngere Ordensschwester grob zur Seite. Diese maulte zwar unverschämt zurück, unternahm aber nichts weiter.
Elischa kam erneut zu Bewusstsein. Der Richtplatz drehte sich vor ihren Augen, und sie bemerkte plötzlich die Schatten, die aus allen Richtungen herangekrochen kamen, um nach ihr zu greifen. Elischa wurde heiß und kalt. Sie fürchtete sich. Aber die Schatten blieben stehen und wagten sich näher als zehn Fuß an die schwer verwundete Orna heran. Sie lauerten, drängelten sich an einer unscheinbaren Linie entlang, die von Elischas Blut markiert wurde. Elischa glaubte ein verärgertes Fauchen und frustriertes Kreischen zu vernehmen. Aber wahrscheinlich wurde sie von ihren Sinnen getäuscht. Dennoch, die heilige Mutter hatte recht behalten und Ayales Essenz hielt die Schatten offensichtlich zurück. Elischa brauchte einen Moment, bis sie wieder klar sehen konnte und beobachtete, wie sich die Schatten noch weiter zurückzogen.
Die letzten beiden Hiebe führte Reela kraftlos aus und richtete damit keinen Schaden mehr an. Viel mehr hätte sie ohnehin nicht mehr zerstören können. Aber das wollte sie auch nicht. Die Ordensschwester wollte die Bestrafung nur noch zu Ende bringen und die Zahl der angeordneten Hiebe erreichen. Elischa spürte sie kaum noch. Behutsam löste Reela die Widerhaken aus der Haut, bevor sie die Geißel angewidert auf die Steine des Richtplatzes fallen ließ. Sie spuckte auf den Boden.
»Es ist vorbei«, sagte sie schließlich, »geht wieder an Eure Arbeit und erledigt Eure Pflichten.«
Die Menge löste sich augenblicklich auf. Die meisten Zuschauer redeten mit gedämpfter Stimme. Einige waren zornig, andere traurig. Die meisten jedoch tief betroffen. Manche Brüder und Schwestern blickten traurig zu dem schlaff zwischen den Richtpfählen hängenden, geschundenen Körper, der als solches kaum noch zu erkennen war. Sie würden die Bestrafung nie wieder vergessen.
Milana und Laraya hingegen bauten sich triumphierend vor der immer noch angeketteten Elischa auf und stemmten dieHände in die Hüften. Sie betrachteten ihr Werk aufmerksam und mit einer gewissen Zufriedenheit.
»Sie atmet noch«, sagte Laraya.
»Wir waren wohl nicht kraftvoll genug«, drückte Milana ihr Bedauern aus.
»Aber sie sieht doch gut aus, findest du nicht?«, fragte Laraya unschuldig.
»Ganz vortrefflich«, lachte Milana, »die Fleischwunde an der Wange schmückt ihr Gesicht besonders. Das wird schöne Narben hinterlassen, sollte es jemals heilen. Selbst die alte Ayale wird das nicht mehr hinbekommen.«
»Aber die Wunde ist doch praktisch. Statt durch den Mund könnte sie sich ihr Essen künftig durch die Wange schieben.«
»Ich weiß nicht«, Milana kratzte sich nachdenklich am Kopf und schmunzelte, »kannst du dir vorstellen, wie ihr Wasser, Speichel und Speisereste aus diesem hässlichen Loch laufen?«
»Pfui! Du bist ekelhaft. Das will ich mir gar nicht erst vorstellen«, meinte Laraya.
»Hört sofort mit diesem Unfug auf und lasst sie in Ruhe!«, mischte sich Reela ein.
Die Aufseherin winkte einige Ordensschwestern zu sich und gab ihre klaren Anweisungen aus.
»Macht Elischa von den Ketten los und bringt sie sofort ins Haus in ihre Kammer. Bettet sie aufs Lager. Aber bloß nicht auf den Rücken. Wir wollen ihre Wunden versorgen. Und ruft Ayale herbei. Die verrückte Alte verlangte, sich um das arme Ding kümmern zu dürfen. Achtet darauf, dass Elischa nicht auf den Boden fällt, wenn Ihr sie ins Haus schleppt!«
Elischa wurde von den Ketten befreit und von mehreren Händen aufgefangen. So sanft sie versuchten mit ihr umzugehen, jede noch so leichte
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