Kryson 04 - Das verlorene Volk
Entfernung mitten im Wasser zu landen. Das Wasser reichte mir bis knapp unter die Hüfte, was Kallahan froh stimmte, da wir zwar nasse Füße bekamen, die Gefahr, durch einen Moldawar angegriffen und gefressen zu werden, allerdings ausgeschlossen war. Die Jagd in seichtem Gewässer lag den großen Schrecken des Meeres nicht, mussten sie doch fürchten, mit ihren massigen Körpern zu stranden, den Weg zurück nicht mehr zu schaffen und am Ende erbärmlich zu ersticken.
Der magische Wall befand sich unmittelbar vor uns. Wir konnten ihn zwar nicht sehen, dafür aber umso deutlicher spüren, wenn nicht sogar mit Händen greifen. Er war gewiss nicht mehr als eine Armlänge von unserem Standort entfernt.
›Wir dürfen den Schutzwall nicht berühren‹, warnte Kallahan, ›ich kann die Kraft der Barriere spüren. Sie würde uns verbrennen.‹
›Du hast recht, Kallahan‹, antwortete ich, ›die magischeEnergie ist stark. Kein Sterblicher vermag dieses Hindernis zu überwinden. Dennoch … uns wird etwas einfallen, und früher oder später werden wir es durchbrechen. Denn wir sind keine gewöhnlichen Sterblichen …‹
›So würde ich das nicht nennen‹, widersprach Kallahan. ›Wir mögen zwar im Vergleich zu anderen Wesen eine viel längere Zeitspanne überdauern, aber gegen Verletzungen und den Tod sind selbst wir nicht gefeit. Am Ende eines jeden Lebens steht der unvermeidliche Gang zu den Schatten.‹
›Aber nicht für uns‹, korrigierte ich Kallahan, ›wir gehen in das Land der Tränen.‹
›O ja, ich weiß‹, meinte Kallahan, ›natürlich hast du damit recht. Aber unseligerweise hilft uns das im Augenblick nicht weiter. Denn weder ist mir nach den Schatten noch nach einer Reise in das Land der Tränen zumute.‹
›Wir finden einen Weg. Mach dir keine Sorgen‹, versuchte ich meinen Gefährten zu beruhigen.«
Ein Geräusch und ein kalter Luftzug im Nacken ließen den Meister der Schriften von seiner Lektüre aufschrecken. Der Schreibkiel fiel ihm prompt aus der Hand und landete ausgerechnet mitten auf der Schriftrolle, auf der er mühsam die uralten Überlieferungen des Ulljan festhielt. In seinem Übereifer, das wertvolle Werkzeug aufzufangen, stieß er mit der Hand die Phiole mit der Tinte um. Mit Entsetzen musste Pydhrab zusehen, wie sich ein hässlicher Tintenfleck weiter und weiter auf dem Papier ausbreitete und die letzten Schriftzeichen in einer blauen Woge überdeckte. Geistesgegenwärtig tauchte er seine Finger in eine neben der Schriftrolle stehende Holzdose und streute ein wenig Kristallsand über die Stelle, um das Schlimmste zu verhindern und seine Arbeit zu retten. Erst als er das Missgeschick gelöscht hatte, bemerkte er den Besucher in seinem Rücken. Hastig drehte sich der Atramentor um.
»Ah, Ihr seid es«, sagte er und zog überrascht eine Augenbraue nach oben.
»Wie ich sehe, habt Ihr meinen Besuch nicht erwartet, Pydhrab.«
»Gewiss nicht, Overlord. Um ehrlich zu sein, hatte ich in diesem abgelegenen Bereich des Verlieses und der geheimen Kammer mit niemandes Aufwartung gerechnet. Aber ich freue mich, Euch zu sehen. Etwas Gesellschaft und Ablenkung kann nicht schaden. Was führt Euch zu mir? Kann ich etwas Bestimmtes für Euch tun?«
»Nun, ich habe zu meiner Überraschung vernommen, dass ihr seit einiger Zeit dabei seid, einen höchst seltenen, vielleicht sogar verbotenen Fund zu lesen«, sagte Yilassa, »und das, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen oder um Erlaubnis zu bitten. Welches Geheimnis wollt ihr vor meinen Augen verbergen?«
»Oh ...«, erschrak Pydhrab. »Verzeiht, hoher Vater ... oder sollte ich besser hohe Mutter sagen?«
»Ihr könnt das falsche Gewäsch unterlassen, Master«, antwortete Yilassa in scharfem Tonfall. »Nennt mich Overlord oder Yilassa, das genügt vollkommen.«
»Es tut mir aufrichtig leid, mein Overlord«, erwiderte Pydhrab, »aber ich wusste nicht, dass Ihr Euch für die Schriftrolle interessieren könntet. Ich dachte, es sei besser, sie erst zu lesen, vorsorglich zu retten, was noch zu retten ist, und ihren Inhalt auf gefährliche Worte zu prüfen, ob ich Euch und andere unseres Ordens nicht einer unbekannten Gefahr aussetzen würde. Ich war mir keines Verstoßes bewusst, als ich mit der Arbeit der Übertragung begann. In den Ordensregeln befindet sich kein Hinweis darauf, dass die Arbeit des Atramentors der ausdrücklichen Erlaubnis des Overlords bedürfe. Ist diese Regel neu und bestätigt, so will ich gerne dafür Sorge tragen, dass
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