Kryson 04 - Das verlorene Volk
gefürchtet. Er hatte sie sogar am eigenen Leib zu spüren bekommen. Selbst bei kleinsten Verfehlungen und Nichtigkeiten kam die Peitsche der Wärter zum Einsatz. Zwanzig Schläge waren das Mindeste, was die Herrscherin verhängte. Für einen Klan konnten schon weniger als zehn Hiebe tödlich sein. Ihm hingegen schadete die Peitsche nicht. Sie juckte ihn nicht einmal. Nalkaar jedochfürchtete die Flammen der Pein. Mehr als alles andere. Die Drohung, ihn erneut dorthin zu verbannen und der endlosen Qual zu überlassen, schreckte ihn und machte ihn immer wieder gefügig, ließ ihn ihre Demütigungen ertragen und ihre Anweisungen befolgen. Rajuru hingegen nutzte jede Gelegenheit aus, ihn daran zu erinnern. Zweimal schon hatte er die Qualen durchleiden müssen, was er ihrem unheiligen Bund mit den Schatten zu verdanken hatte. Eine schrecklichere und schmerzhaftere Bestrafung gab es nicht.
»Ich hasse sie!«, dachte Nalkaar bei sich. »Nur Geduld, eines Tages werde ich meine Genugtuung erhalten. Ich habe Zeit, unendlich viel Zeit.«
Der Weg zu den Brutstätten war lang und beschwerlich. Unzählige Treppen, nicht enden wollende Leitern und schmale, sich weitverzweigende Gänge führten aus dem Zentrum der unterirdischen Stadt in die Tiefe. Nalkaar ärgerte sich. Rajuru hatte ihn aus seinen Übungen herausgerissen, nur damit er sich um den Drachen kümmerte. Der Todsänger mochte die Brutstätten nicht. Es stank erbärmlich. Nalkaar rümpfte die Nase.
»Ekelhaft«, dachte er. Selbst die von der Oberfläche bis weit in die Tiefe reichenden, von Chimären bewachten Lüftungsschächte halfen nicht, den Gestank zu vertreiben. Wenigstens musste niemand in der Tiefe ersticken. Dennoch fühlte sich die Luft an, als ließe sie sich in Stücke schneiden. Die Geräuschkulisse war kaum besser. Sein Weg wurde begleitet von Schmerzensschreien und Stöhnen, wenn er durch einen Gang mit Brutzellen kam. Hinzu kam – je tiefer Nalkaar gelangte – eine sich steigernde feuchte Wärme, die selbst ihm die Kleidung innerhalb weniger Augenblicke durchnässte und unangenehm an die Haut drückte. Hin und wieder begegnete er auf seinem Weg Wächtern, die gut an ihren Peitschen zuerkennen waren. Sie kannten Nalkaar, grüßten ihn respektvoll und machten Platz, damit er die engen Stellen ungehindert passieren konnte.
»Pack« , ging es Nalkaar durch den Kopf, » widerlich, vulgär und gewalttätig . Wie halten sie es nur ein Leben lang hier unten aus?«
Die Zuchtmeister mochte er noch weniger. Sie waren Rachuren, verbrachten den Großteil ihres Lebens in den Brutstätten, hatten dort ihre Kammern und kümmerten sich um die zur Zucht auserwählten Geschöpfe genauso wie um die Brut selbst und die Hybriden. Die Zuchtauswahl war ihre erste Aufgabe und sie erfüllten diese mit einer Hingabe, die den Todsänger überraschte. Sie liebten das Züchten und setzten ihren eigenen Samen nur allzu gerne in Versuchen ein. Für die Zucht brauchten sie ein gehöriges Maß an Erfahrung und ein gutes Auge. Fehler und Fehleinschätzungen rächten sich bald in katastrophalen Ergebnissen. Die nicht lebensfähigen Exemplare waren schnell entsorgt. Sie wurden meist zerkleinert an den Chimärennachwuchs verfüttert.
»Bei den Kojos, hier unten gibt es wahrlich genug Monstrositäten, die selbst den Schatten gefährlich werden könnten und jeder Magie trotzen. Haffaks Brut ist harmlos dagegen. Hoffentlich gelingt es ihnen nicht, sich eines Tages zu befreien «, schoss Nalkaar ein erschreckender Gedanke durch den Kopf.
Nalkaar kannte die meisten der Zuchtmeister, hielt sie jedoch nicht für sonderlich klug. Zumindest würde dies die teils grotesken Kreaturen erklären, die sie hin und wieder hervorbrachten. Eines musste er ihnen allerdings zugestehen: Sie schreckten vor nichts zurück. Kein Versuch war ihnen zu schade, selbst wenn das fatale Ergebnis für jeden vernünftigen Betrachter vorhersehbar war. Beinahe hätte man sie als kreativ ansehen können. Oder doch naiv?
Manche unter den Zuchtmeistern – so ungern er sich dieseingestehen mochte – bezeichnete Nalkaar sogar als geschickt in ihrem Handeln. Aber vielleicht war ihnen nur das Glück hold. Der Todsänger weigerte sich dennoch, ihnen auch nur einen Funken Verstand zuzutrauen. Aber das war nicht entscheidend, ihre Zuchtergebnisse brachten – solange sie sich an die Regeln der Zucht hielten – nützliche Chimären hervor, die sich für die Arbeit und Kriegszwecke einsetzen ließen. Nur dies zählte in den
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