Kryson 04 - Das verlorene Volk
auch gesehen?«
»Was?«, fragte Madhrab erstaunt.
»Sieh genau hin«, sie deutete mit dem Finger auf eine Stelle des Spiegels in der unteren linken Hälfte. »Ein riesiger Schatten, der sich eilig zum Wasser hinbewegt. Hier ...« Sie zeigte auf eine Stelle, an der sich die Dünste des Sumpfes zu einem dunkleren Schemen verdichteten.
»Was mag das sein?« Madhrab war nicht sicher, konnte er die Gestalt doch nur vage erkennen. Zudem wackelte das Bild während des Fluges stark.
»Im Wasser!«, schrie Elischa aufgeregt. »Dort kämpfen zwei Männer im Wasser.«
Madhrab hatte die Männer nun ebenfalls gesehen und es war unschwer zu erkennen, dass sie sich in großer Gefahr befanden. Aus dem Wasser bewegten sich gleich mehrere Schatten auf sie zu, und der riesenhafte Schemen stürzte sich soeben von der anderen Seite vom Ufer ins Wasser. Die Männer waren eingekreist. Egal für welche Seite sie sich entscheiden würden, ihnen stand unmittelbar ein heftiger, wahrscheinlich letzter, tödlicher Kampf bevor.
»Wie viel Zeit bleibt uns?«, wollte der Lordmaster von Elischa wissen.
»Ich weiß es nicht, fürchte aber, dass wir es nicht schaffen werden, ihnen zu Hilfe zu eilen.«
»Ich muss wissen, wie weit uns die Käfer voraus sind!« Madhrab wirkte plötzlich sehr drängend und ungeduldig.
»Wenn ich die Flugzeit bedenke, etwa drei Meilen«, antwortete Elischa, »die Hindernisse und Gefahren auf dem Weg nicht eingerechnet. Wahrscheinlich werden wir für die Strecke einen halben Tag brauchen.«
»Und uns bleiben höchstens wenige Sardas«, stellte Madhrab verbittert fest, »wir werden zu spät kommen ... es sei denn ...«
»Nein, Madhrab«, rief Elischa erschrocken, »das darfst du nicht. Das ist zu gefährlich!«
»Ich weiß, aber welche Wahl bleibt uns? Ich muss das stärkste Tarsalla heraufbeschwören, das mir möglich ist. Die Zeit muss stillstehen.«
»Aber es wird dich verbrennen, Madhrab«, sorgte sich Elischa. »Wie lange wirst du es aufrechterhalten können, ohne dir selbst zu schaden?«
»Wenn deine Schätzung stimmt, werde ich bei Ihnen sein, bevor sie von der Gefahr erreicht werden.«
»Und dann? Wirst du ihnen in deinem geschwächten Zustand noch beistehen können?«
»Ja ... aber nur für kurze Zeit. Alles muss schnell gehen und ich muss einen tödlichen Streich führen.«
»Bei den Kojos, Madhrab. Tu es nicht. Mir zuliebe«, flehte Elischa.
»Ich kann nicht anders, Elischa. Folge mir, so schnell du kannst, und bitte die Kojos darum, bei allem, was dir heilig ist, dass ich nicht versagen werde.«
Während Elischa entsetzt durch den magischen Spiegel beobachtete, wie sich der Schemen und die anderen Wesen den beiden Männern im Wasser näherten, bereitete sich Madhrab vor und konzentrierte sich auf sein Tarsalla. Kreischend und hungrig fuhr Solatar aus der Scheide.
»Am menok tar velok sa kurok alla«, beschwor Madhrab sein Tarsalla.
Kaum hatte der Bewahrer die beschwörenden Worte ausgesprochen, war er bereits aus den Augen der Orna verschwunden. Es kam ihr vor, als hätte sie einen rot schimmernden Blitz verschwinden sehen, der sich in rasender Geschwindigkeit von ihr entfernt hatte, während sie selbst an Ort und Stelle gebunden war und sich nur quälend langsam bewegen konnte, als hätte sie Wurzeln in den sumpfigen Boden geschlagen. Ein Kribbeln zog sich über ihre Haut, als krabbelten tausend Spinnen über ihren Körper. Sie schauderte und wollteschreien, doch über ihre Lippen kam nur ein lautloser, stark verlangsamter Atemstoß.
Die Welt von Kryson verschwamm vor den Augen des Bewahrers. Wie ein Geist bewegte er sich durch eine gespenstisch graue Landschaft, die zu einem einzigen Farbenwirrwarr zu verwischen schien. Büsche und abgestorbene Bäume zogen an ihm vorbei. Die Tiere der Grenzlande, ob klein, ob groß, nahmen den vorbeiziehenden Blitz nicht bewusst wahr. Zu schnell und zu kurz erfolgte die plötzliche Bewegung, während sie selbst wie gelähmt waren. Dennoch musste Madhrab seine Schritte mit Bedacht wählen. So schnell er sich durch die Magie der Bewahrer auch fortbewegen mochte, er war nicht davor gefeit, bei einem Fehltritt in einem Sumpfloch stecken zu bleiben und zu versinken oder mit einem Hindernis zusammenzustoßen.
Nie zuvor hatte er ein solch starkes Tarsalla hervorgerufen. Ein Wagnis, das er kaum zu kontrollieren und dessen Folgen er nicht abzuschätzen vermochte. Natürlich hatte er Elischa nicht die Wahrheit gesagt, denn er wusste nicht, wie lange er diesen
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