Kryson 05 - Das Buch der Macht
solltet. Die Zeit sei knapp.«
»Wir warten, bis das Buch endlich gefunden ist«, blieb Saijkal hart, »dann schlagen wir los und entfesseln die Gescheiterten, um das Buch in unsere Hände zu bekommen. Bis dahin bleibt Saijrae, wo er ist. Er hat sich schließlich selbst in diese Schwierigkeit gebracht und gefährdet unsere Pläne. Im Augenblick kann er in seinem Fischleben keinen Schaden anrichten, und ehrlich gesagt, ich will und kann sein ständiges Gejammer in den heiligen Hallen nicht länger ertragen.«
Es gab Zeiten, in denen der weiße Schäfer Saijrae verfluchte.
»Womit habe ich einen solchen Bruder verdient, Ulljan?«, warf er ihrem längst verstorbenen Lehrmeister dann häufig vor. »Ich bin auf Gedeih und Verderb an ihn gebunden. Das ist nicht gerecht.«
Natürlich hatte er sich im Verlauf ihres langen Lebens längst damit abgefunden, dass er nicht ohne den dunklen Hirten sein konnte. Er war ein Teil von ihm und umgekehrt. Dennoch war es nervenaufreibend, Saijrae immer wieder zu zügeln, ihn zur Ordnung zu rufen und ihm aus den Schwierigkeitenherauszuhelfen, die er sich selbst eingebrockt hatte. Aber ihm war sehr wohl bewusst, dass er ohne seinen Bruder zur Tatenlosigkeit verdammt wäre. Saijrae trieb ihn an und dort, wo er zu weit ging, glich Saijkal es wieder aus. Und das alles nur für die Dunkelheit, für die sie beide standen. Ulljan musste den dunklen Hirten bevorzugt haben, als er sie zu seiner Nachfolge bestimmt hatte. Das fand Saijkal von jeher ungerecht. Der weiße Schäfer hatte es in seiner Gestalt ungleich schwerer, in der Nacht zu bestehen, was ihn zugleich vorsichtiger und vernünftiger machte. Notgedrungen hatte er seine Lektionen schnell gelernt und wusste sehr genau, was er sich erlauben durfte und was nicht. Es war ein steter Tanz auf Messers Schneide, wollten sie den Ausgleich zwischen sich und das Gleichgewicht auf Ell nicht gefährden. Besonders herausfordernd war es für Saijkal immer dann, wenn der dunkle Hirte versucht hatte, das Gleichgewicht zugunsten der Dunkelheit zu verschieben, obwohl er genau wusste, dass dies im Chaos enden und nicht lange Bestand haben würde. Saijkal kannte seinen Bruder. Saijrae tat dies nur, weil ihm wie einem kleinen Kind schnell langweilig wurde, sodass er ständig Neues ausprobieren musste. Oft reichte dem dunklen Hirten schon das Gefühl, etwas erreicht zu haben und zumindest für eine Zeit übermächtig zu sein. Das bereitete ihm Vergnügen. Wohingegen Saijkal danach alles wieder aufräumen durfte, was sein Bruder in Unordnung gebracht hatte. Eine undankbare Aufgabe.
Saijkal brauchte Ruhe. Wenigstens für einige Monde würde er ungestört sein, Kräfte sammeln, nachdenken und Pläne schmieden können. Die Hexe hatte ihm ohne Absicht einen Gefallen getan. Er sollte sich ihr gegenüber als dankbar erweisen. Der weiße Schäfer legte sich seufzend auf sein Lager und starrte die hohe Decke der heiligen Hallen über ihm an. Er war sich noch nicht sicher, wie lange er warten würde, bis ersich endlich nach Fee aufmachte, den dunklen Hirten aus der Gefangenschaft zu befreien.
»Wie wäre es, wenn ich niemals nach Fee ginge«, durchzuckte ihn ein verwegener Gedanke, der ihm ein breites Lächeln auf sein Gesicht zauberte, »das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
Saijkal verscheuchte den Gedanken schnell wieder. Vielleicht überschlugen sich die Ereignisse auf Ell bald und er würde früher aufbrechen müssen, als ihm lieb war. Aber womöglich geschah in nächster Zeit überhaupt nichts und er konnte sein Dasein noch für eine Weile in aller Ruhe ohne die nervende Gesellschaft seines Bruders genießen.
*
Einige Tage lang beobachtete der dunkle Hirte aus seinem Versteck heraus das Haus der Hexe. Er merkte sich, wann Ilora für gewöhnlich ihre Hütte verließ und wie viel Zeit verging, bis sie wieder zurückkam. Saijrae zählte jede Sardas ihrer Abwesenheit, um keinen Fehler zu machen. Dabei stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sie einen festen Rhythmus pflegte. Verließ sie ihre Behausung nur kurz für die Dauer einer Hora, folgten zwei längere Abschnitte von jeweils etwa drei Horas. Danach blieb sie für eine längere Zeit in ihrer Hütte, bis sie sich dann wieder für zwei kürzere Zeitabschnitte auf den Weg machte, auf die wiederum eine längere Abwesenheit folgte. Danach begann alles wieder von vorne. Manchmal war sie mit einem Netz aus Algen unterwegs und brachte Fische mit zurück. Ein andermal hatte sie Hölzer und Steine
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