Kryson 05 - Das Buch der Macht
Die Magie machte ihn anderen überlegen. Der Gedanke, die Grenzen des Möglichen zu überschreiten und über Leben und Tod oder sogar über Raum und Zeit zu gebieten, machte ihn trunken.
Die Rachuren sollten ihn kennen- und fürchten lernen. Sie würden umkehren, wenn er ihnen gezeigt hatte, wozu ein Lesvaraq imstande war.
Tomal horchte in sich hinein, was der Konflikt in seinem Inneren zu sagen hatte. Doch Tag und Nacht waren sich nicht einig und quälten ihn mit einer Schwäche, die ihn an der Ausübung seiner Macht hinderte.
»Entscheidet euch«, sagte er in Gedanken zornig zu sich selbst, »die Rachuren werden nicht ewig warten!«
Plötzlich überkam Tomal eine seltsame Unruhe. Er atmete tief ein und wieder aus und versuchte sich zu beruhigen. Er musste etwas zustande bringen, was die Todsänger und Rachuren beeindruckte.
Mit dem Zeigefinger zeichnete er vor seinen Lippen schneller und schneller Kreise in die Luft. Sein Atem wuchs zu einem Wirbelsturm heran, der sich vor den Augen der Rachuren in eine Windhose veränderte, die alles in sich hineinsog und zermalmte, was ihr im Weg stand. Je mehr Tomal ein und wieder aus atmete und den Atem mit seinen Fingern verwirbelte, desto heftiger wurde der Sturm.
Die Rachuren riefen sich hektisch Warnungen zu. Schon hatte der Wirbelsturm die ersten Chimärenkrieger mit sich gerissen.
Nalkaar warf dem Lesvaraq böse Blicke zu und hielt krampfhaft seinen Mantel fest, an dem Tomals Sturm heftig zerrte, als versuchte er den Todsänger zu entblößen. Ihre geordneten Marschreihen aufgebend stoben die Chimärenkrieger in wilder Panik auseinander, als der mächtige Wirbelsturm durch ihre Reihen tobte.
Tomal hörte Nalkaar durch den Sturm rufen:
»Madsick! Spielt auf Eurer Flöte und ruft die Schatten zu uns.«
Der Flötenspieler sah den Todsänger ungläubig an und schüttelte heftig den Kopf. Er schlotterte am ganzen Leib vor Angst.
»Das ist zu gefährlich, Herr!«, antwortete Madsick, dessen Stimme vom Tosen des Sturms beinahe verschluckt wurde.
»Spielt«, schrie Nalkaar. »Ich stehe Euch bei!«
Mit zitternden Händen setzte Madsick seine Flöte an die Lippen und blies hinein. Seine Haare flatternden im Wind. Erste zaghafte Töne erklangen.
»Fürchtet Euch nicht!«, rief Nalkaar, »Ihr müsst Euch steigern.«
Während er einen Kreis um den Flötenspieler zog, vollführte Nalkaar einen wilden Tanz und stimmte seinen ganz eigenen Gesang an, der sich vom Lied der Seelen unterschied. Nalkaar sang voller Disharmonie und im Gegensatz zu seiner ansonsten weichen und warmen Stimmfarbe mit kratzig krächzender Stimme.
Tomal hielt sich ob der schiefen, schmerzenden Klänge die Ohren zu, während er seine Wangen immer wieder aufblies und den Wirbelsturm noch weiter anfachte. Er fragte sich, was der Todsänger wohl vorhatte. Was wollte Nalkaar erreichen? Sollte der Flötenspieler wirklich die Schatten rufen?
Singend und sich im Kreis drehend wirbelte der Todsänger Staub auf und erschuf einen Schutzwall um den Flötenspieler. Staunend beobachtete der Lesvaraq, wie sich die Umgebung in der Nähe seines Wirbelsturms plötzlich veränderte. Ein grauer Nebel stieg auf, den er kannte. Der Nebel des Vergessens.
»Der Flötenspieler hat ein Portal zum Reich der Schatten geöffnet«, dachte Tomal.
Die ersten Schatten bewegten sich zum Rhythmus des Flötenspiels. Sie näherten sich Nalkaar und dem Flötenspieler, kreischten jedoch enttäuscht, als sie vergeblich versuchten, durch den Schutzwall nach Madsick zu greifen. In ihrem Zorn griffen sie nach dem Todsänger, zuckten jedoch sofort zurück, als hätten sie sich bei der Berührung des lebenden Toten verbrannt.
»Der Sturm!«, befahl Nalkaar den Schatten. »Schlüpft in den Sturm und wandelt ihn!«
Mehr und mehr Schatten erschienen aus dem Nebel undstürzten sich in Tomals Wirbelsturm. Der Lesvaraq spürte, dass er die Kontrolle über seine eigene Magie verlor. Der Orkan verwandelte sich in einen Sturm der Schatten, der die Richtung änderte und auf ihn zuraste. Ihm blieb wenig Zeit, bis ihn der Schattensturm erreichen würde.
»Der Todsänger will mich in das Reich der Schatten ziehen, indem er meine eigene Macht umkehrt und gegen mich einsetzt«, dachte Tomal, » aber das wird ihm nichts nutzen. Die Schatten fürchten sich vor dem Licht und dem Sohn des Feuers.«
Und tatsächlich verharrten die wirbelnden Schatten dicht vor Tomal und wagten nicht, ihn zu berühren.
»Was ist mit euch?«, rief Nalkaar den Schatten zu.
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