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Kryson 06 - Tag und Nacht

Kryson 06 - Tag und Nacht

Titel: Kryson 06 - Tag und Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Rümmelein
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Land der Tränen kam ihm eigenartig vor, weil es nicht mehr seinen Vorstellungen entsprach. Und doch schien es vertraut und er fühlte sich wohl, wie lange nicht mehr.
    Aber woher stammten seine Erwartungen? Letztlich konnten sie nur aus seinen Erinnerungen entspringen. Das musste bedeuten, dass er nicht alles vergessen hatte. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn. Sollte er sich darüber freuen oder sich davor fürchten? Wie schädlich mochte es wohl sein, sich an ein früheres Leben zu erinnern? Er hätte schwören können, dass die beiden Sonnen der Wirklichkeit entsprachen.
    Ein kalter Hauch strich an ihm vorbei und ließ ihn frösteln. Madhrab horchte in sich hinein und entdeckte das Gefühl einer Bedrohung. Aufgeregt blickte er sich um und glaubte, in der Nähe einen Schatten wahrgenommen zu haben.
    »Was ist mit dir, Liebster?«, fragte Elischa besorgt.
    »Ich dachte, ich hätte einen Schatten gesehen und mir wurde plötzlich kalt«, sagte Madhrab.
    »Du machst mir Angst«, antwortete Elischa, »das darf nicht sein. Nicht hier im Land der Tränen.«
    »Vielleicht habe ich mich getäuscht und es war nur der Hauch einer Erinnerung.«
    »Wir sollten sofort mit dem Hüter sprechen«, schlug Elischa vor.
    »In Ordnung«, stimmte Madhrab zu, »lass uns zum Baum gehen. Er wird sich bestimmt dort in der Nähe aufhalten.«
    Sie rannten, so schnell sie konnten, zum Baum und riefen nach dem Geist. Elischa und Madhrab mussten nicht lange warten, bis er in der Gestalt des uralten, gebeugten Mannes hinter dem Baum erschien und sie freundlich lächelnd begrüßte.
    »Ihr wirkt aufgeregt«, stellte der Hüter fest, »was ist geschehen?«
    Madhrab erzählte dem Geist des Baumes, was er zu sehen und zu fühlen glaubte. Der Geist hörte aufmerksam zu.
    »Das ist eine schwerwiegende Angelegenheit«, sagte er schließlich, »ich werde mich mit Farghlafat beraten müssen. Aber ich kann dir versichern, im Land der Tränen gibt es keine Schatten. Was du gesehen und gefühlt hast, entspringt deinen Gedanken. Wir müssen handeln, bevor noch mehr geschieht und die Erinnerungen zurückkommen. Zuerst die Sonnen und dann der Schatten und die Kälte des Todes. Nichts von alledem solltest du an diesem Ort sehen oder fühlen.«
    »Was geschieht, wenn ich mich doch erinnere?«
    »Wir verlieren eine Seele und mehr. Beschwörst du die Schatten, absichtlich oder unabsichtlich, im Land der Tränen herauf, könnten sie womöglich einen Zugang finden. Das wäre eine Katastrophe. Aber daran wollen wir nicht denken. Der Baum des Lebens wird eine Lösung finden.«
    Nachdenklich verschwand der Hüter hinter dem mächtigen Baumstamm Farghlafats. Die Beratung dauerte nicht lange. Nur wenige Augenblicke später kehrte der Geist in der Gestalt eines Jünglings zurück und hielt eine durchsichtige Phiole mit einer grün schimmernden Flüssigkeit in der Hand.
    »Du wirst das trinken«, ordnete der Hüter an, während er Madhrab die Phiole reichte, »bis auf den letzten Tropfen.«
    »Was ist das? Gift?«
    »Du bist bereits tot. Schon vergessen?«, zog der Hüter Madhrab auf.
    »Nein, es fühlt sich nur nicht so an.«
    »Ich gebe dir von der Essenz des Baumes. Sie wird aus frischen Blättern Farghlafats hergestellt. Sie schmeckt bitter und es ist eine Qual, sie zu schlucken. Hast du sie getrunken, wirst du Schmerzen bekommen und in einen traumlosen Schlaf sinken.«
    »Wozu soll das gut sein?«, wollte Madhrab wissen.
    »Die Essenz wird dir helfen zu vergessen. Und nun stell keine Fragen mehr und trink«, erklärte der Hüter.
    Madhrab sah Hilfe suchend zu Elischa. Seine Neugier und die Fragen waren ein Teil seiner selbst. Er war es gewohnt, möglichst viel zu erfahren. Elischa nickte ihm aufmunternd zu. Offensichtlich vertraute sie dem Geist des Baumes und stimmte der Behandlung zu.
    Madhrab öffnete die Phiole und trank. Obwohl von der Essenz nur wenige Tropfen in der Phiole waren, fiel es ihm schwer, diese zu schlucken. Die Beschreibung des Hüters über den Geschmack der Essenz war untertrieben. Bitter war gar kein Ausdruck. Sie schmeckte widerlich. Doch kaum hatte er den ersten Tropfen die Kehle hinabgewürgt, breitete sich eine wohlige Wärme in seinem Körper aus. Er schluckte auch die restlichen Tropfen. Die Wärme steigerte sich zu einer Hitze, die ihn zu verbrennen drohte. Der Schmerz kam wie vorhergesagt und Madhrab verlor das Bewusstsein.
    Als er wieder erwachte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was geschehen war, bevor er die Essenz getrunken

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