Kryson 06 - Tag und Nacht
Lesvaraq zugleich. Farghlafat ist die Schöpfung selbst. Er entscheidet über Leben und Tod. Seine Wurzeln umspannen und durchdringen Kryson bis in die tiefsten Tiefen und halten das komplizierte Gefüge zusammen.«
Hinter dem mächtigen Stamm des Baumes trat ein junger Mann hervor. Er war nackt, wohlgebaut, in Madhrabs Augen schön und muskulös. Bis auf das pechschwarze, dichte Haupthaar war er am restlichen Körper haarlos. Seine Haut war braun gebrannt, glänzend mit einem Schimmer von Bronze. Er betrachtete Madhrab wohlwollend und der Neuankömmling vertraute ihm sofort.
Innerhalb weniger Augenblicke alterte der Mann zu einem uralten Greis, der gebeugt mit schneeweißem, langem Haar und Bart zu Madhrab blickte. Lediglich seine Augen hatten sich nicht verändert. Sie wirkten jung, neugierig und aufmerksam. Ihre moosgrüne Farbe war auffällig. Kaum hatte sich Madhrab an den Anblick des Alten gewöhnt, stand er wieder in seiner jungen Erscheinung vor ihm.
»Der Lauf des Lebens«, sagte der Geist mit einem wissenden Lächeln, »ein steter Kreislauf. Du wirst geboren, wächst auf, alterst und stirbst. Dein Geist erholt sich. Du erneuerst dich. Der Kreislauf beginnt von vorne.«
Madhrab starrte den Geist verständnislos an. Er wusste nicht, wovon der Geist redete.
»Keine Sorge«, fuhr der Geist fort, »du musst nicht verstehen, was ich dir sage. Du wirst es wieder vergessen. Du bist auf der Suche nach einer verbundenen Seele.«
»Ich weiß nicht«, meinte Madhrab, »ich kann mich nicht erinnern.«
»Aber ich weiß es«, sagte der Geist des Baumes, »komm mit mir. Ich möchte dich jemandem vorstellen.«
Der Geist streckte die Hand aus und ergriff Madhrabs Hand. Er zog Madhrab mit sich und führte ihn unter den Ästen des Baumes hindurch auf eine offene Wiese. Madhrab hielt die Hand vor die Augen, als sie gemeinsam aus dem Schatten des Baumes traten. Das Licht und das satte Grün der Gräser blendeten ihn. Auf der Wiese wuchsen die verschiedensten Blumen. Bunte Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte und tauchten die Wiese in eine sich bewegende Farbenpracht, wie Madhrab sie nie zuvor gesehen hatte.
»Das ist schön«, seufzte Madhrab.
»Das ist es«, antwortete der Geist, »es ist das Leben, wie es sein könnte. Nur ein kleiner Ausblick. Eine Wiese im Gleichgewicht. Natur, wie du sie lieblicher nirgendwo auf Kryson finden kannst. Spürst du die Macht des Baumes und die Kraft seiner Schöpfung? Das ist reine Magie. Ein Traum, den du nur im Land der Tränen träumen wirst. Der Friede, die Erlösung von allem Leid. Sieh dir die Bewegungen der Schmetterlinge an, präge dir ihre Farben und das muntere Spiel ihrer Flügel ein. Solltest du eines Tages gerufen werden, wird dir dieses Bild in dunklen, kalten Zeiten helfen, deine Gedanken erhellen und dein Herz erwärmen. Auch wenn du dich nicht erinnern wirst, weißt du tief in deinem Inneren, dass es sich lohnt, zu leben und zu lieben. Es gibt die Schönheit, nach der du suchst.«
Der Geist führte Madhrab über die Wiese bis zum Ufer eines Baches. Das Wasser war kristallklar. Madhrab konnte bis auf den Grund sehen. Fische schwammen vorüber. Ihre Schuppen glänzten im Licht in den Farben des Regenbogens.
Madhrab hatte Tränen in den Augen. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Das Land der Tränen war mehr als ein Traum. Er war zu Hause, fühlte sich wohl und geborgen.
»Wir sind da«, sagte der Geist und zeigte auf die andere Seite des Ufers.
Madhrab sah sich neugierig um. Sie waren nicht weit gegangen. Der Baum des Lebens war immer noch nah. Auf der anderen Seite des Bachlaufs saß eine junge Frau mit pechschwarzem, langem Haar. Madhrab hatte das Gefühl, als würde er sie kennen.
»Wer ist sie?«, flüsterte er.
»Sie ist es, die du suchst«, sagte der Geist, »eine verbundene Seele. Vor langer Zeit schon habt Ihr das Band der Liebe miteinander geknüpft. Gegen alle Widerstände habt Ihr Euch gefunden, aneinander festgehalten und an Eure Liebe geglaubt. Immer wieder. Das Band ist schon viel älter, als du dir vorstellen kannst.«
»Sie ist wunderschön«, seufzte Madhrab.
»In deinen und den Augen vieler anderer ist sie das«, nickte der Geist, »das muss und wird immer so sein. Du siehst ihr wahres Wesen. Sie ist ein Geschöpf des Lichts und eine überaus gute Seele. Kein noch so schweres Leid konnte sie verderben. Sie blieb standhaft bis zu ihrer Rückkehr in das Land der Tränen.«
»Wie ist ihr Name? Kann ich mich zu ihr setzen?«, fragte
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