Kryson 06 - Tag und Nacht
seinem Heer und den Todsängern geflohen war. Die Bewahrer und Sonnenreiter hatten nur wenige Verluste zu beklagen und waren erfolgreich aus dem Kampf in die Ordenshäuser zurückgekehrt.
Sapius war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das neue Grauen um sich herum zu begreifen. Ein Gemetzel ohnegleichen war im Gange. Er sah, wie die Ordensschwestern von ihren Brüdern erschlagen wurden, aber er handelte nicht. Es berührte ihn nicht einmal. Teilnahmslos suchte er seinen Weg aus den Ordenshäusern. Die Bewahrer tobten, als hätten sie den Verstand verloren. Sapius sah die Grausamkeiten zwar, aber sie zogen an ihm vorbei wie in einem schlechten Traum. Die Bewahrer hackten mit Äxten, Schwertern und allem, was sie hatten, auf ihre Ordensschwestern ein. Eine nach der anderen fiel ihnen zum Opfer. Die Orna schrien, flehten um Gnade und Verschonung. Aber alles Weinen und Flehen nutzte nichts. Die Orden waren am Ende. Als die letzte Orna erschlagen war, fielen die Bewahrer über die Sonnenreiter her und bekämpften sich gegenseitig. Das Grauen war nicht zu beschreiben.
Sapius stieg über Berge von Leichen und rief den Drachen, der aus den Wolken zu ihm herabstieß und auf einem breiteren Stück der Mauer landete, um den Magier aufsteigen zu lassen.
»Was hast du bloß getan, Sapius?«
, wollte der Drache wissen.
»Was?«
, fragte Sapius abwesend.
»… ich … ich weiß nicht.«
»Steig auf und lass uns fliegen«
, meinte der Drache besorgt,
»du kannst es mir später erzählen, sobald es dir wieder besser geht.«
Sapius ließ sich von Haffak Gas Vadar auf den Rücken helfen. Der Magier suchte sich einen sicheren Halt. Haffak Gas Vadar entfaltete seine Schwingen und gewann rasch an Höhe.
Sapius drehte sich noch einmal um und blickte zurück zu den Ordenshäusern. Dicke Rauchwolken stiegen aus dem Ordenshaus der heiligen Mutter empor. Das Haus der Orna brannte lichterloh.
»Das ist das Ende der Orden«
, dachte Sapius traurig bei sich,
»und ich bin schuld daran.«
Haffak Gas Vadar flog einen Bogen Richtung Süden. Ihr Ziel war Kartak, die Insel der Nno-bei Maya.
Vereint
M adhrab erwachte. Er lag auf dem Rücken im Schatten eines Baumes und starrte nach oben. In seinem Inneren herrschte vollkommener Frieden. Er wusste nicht, wer und wo er war. Er hatte vergessen, wonach er suchte. Sogar an seinen Namen konnte er sich nicht mehr erinnern. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft.
Dennoch konnte er sehen, hören, riechen und fühlen. Er fühlte sich wohl und geborgen, als wäre er ein frisch geborener Säugling, den seine Mutter sanft in ihren Armen wiegte. Eine kühle Brise strich über sein Gesicht. Die Blätter in den Ästen über ihm zitterten und rauschten. Der Baum kam ihm unendlich hoch vor, als würde er bis weit in den Himmel und darüber hinaus wachsen.
»Willkommen!«, flüsterte ihm eine Stimme zu.
Die Stimme hatte einen angenehmen, warmen Klang.
Madhrab setzte sich auf und drehte sich um, konnte jedoch niemanden erkennen.
»Wer bist du?«, fragte Madhrab.
»Ich bin der Geist des Baumes«, antwortete die Stimme, »der Hüter über das Land der Tränen.«
»Kenne ich dich?«, wollte Madhrab wissen.
»Ich kenne dich, das sollte genügen«, meinte der Geist.
»Wer bin ich? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Das ist gut«, antwortete der Geist, »denn es zeigt mir, dass deine Zeit gekommen ist. Du bist zu Hause und bereit.«
»Bereit wofür?«
»Für das Land der Tränen und die Gesellschaft von Farghlafat, dem Baum des Lebens.«
»Du sprichst in Rätseln. Verrätst du mir meinen Namen? Ich möchte mich gerne erinnern.«
»Nein«, lehnte der Geist ab, »das Vergessen gehört zum Sterben. Nur diejenigen, die noch nicht bereit sind, erinnern sich. Du aber sollst deinen Frieden finden. Für eine Weile wirst du in der Nähe des Baumes bleiben, damit wir sichergehen können, dass du dich nicht erinnerst. Dein Geist muss sich erholen.«
»Aber …«
»Kein
Aber
, mein Freund. Du bist tot. Wie alle Wesen magischen Blutes vor und nach dir gehörst du in das Land der Tränen. Dort wirst du so lange verbleiben, bis er dich eines Tages ruft und in ein neues Leben schickt.«
»Wer ist er?«
»Der Baum des Lebens.«
»Wie kann mich ein Baum zu neuem Leben rufen?«
»Farghlafat ist die Macht, das Gleichgewicht und die Unendlichkeit. Jede Magie entspringt aus ihm. Er ist der Ursprung allen Lebens. Die Liebe, die Musik, das Licht und auch der Schatten ruhen in seinen Wurzeln. Er ist Kojos und
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