Kryson 06 - Tag und Nacht
Rajuru? Die alte Hexe? Nalkaar hätte schreien, jubeln und weinen können. Alles zur selben Zeit. Die Brutstätten vernichtet? Wie war das möglich? Was bedeutete das für ihn? Nach allem, was er über eine unfassbar lange Zeit durch Rajuru hatte erdulden müssen. Nun war Nalkaar frei und doch fühlte er sich nicht so.
Es hatte sich nichts verändert. Nichts, was er unmittelbar spüren konnte. Was fühlte er? Nichts. Und doch war eine plötzliche Leere in ihm. Ein Stich in seinem toten Herzen, der sich fürchterlich anfühlte. Hatte sie ihm mehr bedeutet, als ihm lieb sein konnte?
»Rajuru, meine Liebe. Rajuru, warum tust du mir das an?«, schluchzte Nalkaar leise. »Ich habe dich geliebt und gehasst. Wie kannst du tot sein nach all den Sonnenwenden? Das ist nicht gerecht! Du solltest bei mir sein, damit ich dich leiden lassen kann. Bei den Kojos, wie konnte das geschehen?«
»Herr?«, fragte der Bote vorsichtig.
»Was ist?«, schreckte Nalkaar unwirsch aus seinen Selbstgesprächen hoch.
»Oh, ich wollte nur fragen, ob alles in Ordnung mit Euch ist«, antwortete der Bote.
»In Ordnung? In Ordnung?«, kreischte Nalkaar lautstark. »Nichts ist in Ordnung. Chaos! Rajuru ist tot und Ihr wollt mir Befehle von Raymour überbringen. Wer hat das getan? Berichtet auf der Stelle!«
Nalkaar war außer sich und tobte im Zelt. Der Bote sah ihn entsetzt an.
»Ein fürchterlicher Kampf hat stattgefunden«, stammelte der Bote, »wir wurden überfallen und der Drache wurde befreit. Die gefangenen Tartyk ebenso. Selbst die Dreloks konnten die Angreifer nicht aufhalten – sie freizulassen, war ein Fehler. Sie wurden alle vernichtet. Das Unvorstellbare ist eingetreten. Eine Gruppe von Magiern drang in die Brutstätten ein. Sie wurden von Rachuren unterstützt. Raymour und Zanmour führten die Revolte. Rajuru wurde von einem Magier namens Sapius getötet und von der Dunkelheit verschlungen. Wir waren geschlagen und mussten aus den Brutstätten fliehen. Viele Zuchtmeister fielen im Kampf.«
»Sapius?«, hakte Nalkaar nach und erinnerte sich: »Verdammt, den Namen habe ich doch schon einmal gehört. Rajuru hat ihn erwähnt. Er war ein Saijkalsan, der uns in der Schlacht am Rayhin schwer zugesetzt hat. Ich kann kaum fassen, was Ihr mir da erzählt. Was ist mit den Leibwächtern?«
»Erschlagen, Herr«, antwortete der Bote.
»Ayomaar und Onamaar erschlagen? Sie waren neben Grimmgour die besten und stärksten Krieger der Rachuren«, schüttelte Nalkaar den Kopf. »Wer hat die beiden erschlagen?«
»Raymour und Zanmour«, sagte der Bote.
»Und warum denkt Ihr, ich würde den Befehlen von einem Raymour und einem Zanmour Folge leisten? Den Mördern von Rajurus Leibwächtern? Ich bin Nalkaar der Todsänger«, baute sich Nalkaar vor dem Boten auf, »ich kenne Zanmour, er war ein durchaus fähiger Rachure mit einem Gefühl für die geplagten Kreaturen. Einfühlsamer und besser als all die anderen Zuchtmeister in den Brutstätten. Aber ein Herrscher ist er ganz gewiss nicht.«
»Ich darf mir dazu keine Äußerung erlauben, Herr«, meinte der Bote, »Zanmour ist einer von uns und doch gehörte er nie wirklich zu den Zuchtmeistern. Aber er ist nun einmal einer unserer neuen Herrscher. Wir mussten ihm und Raymour die Treue schwören. Ich bin nur ein Bote, der Euch Nachrichten und Befehle überbringt.«
»Ihr könnt bei mir bleiben und Euch dem Heer anschließen, wenn Ihr wollt«, schlug Nalkaar vor, »Ihr müsst ihnen nicht dienen. Oder Ihr kehrt unverzüglich nach Krawahta zurück und überbringt Raymour und Zanmour meine Antwort.«
»Wie lautet Eure Antwort, Herr?«, fragte der Bote.
»Sie lautet nein!«, schrie Nalkaar. »Ich werde die Eroberung erfolgreich zu Ende führen. Wir werden die Klan besiegen und unterjochen. Es wird ein Reich der Todsänger erblühen, wie es Kryson noch nicht gesehen hat. Erst wenn ich gesiegt habe, werde ich nach Krawahta zurückkehren und die Herrschaft über die Rachuren an mich nehmen. Und ich werde für sie singen. Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, die Seelen Raymours und Zanmours zu fressen.«
Der Bote wurde blass und trat einen Schritt zurück.
»Das kann ich nicht zulassen, Herr«, flüsterte der Bote, »die neuen Herrscher werden von den Rachuren respektiert und gefeiert. Sie haben uns aus der Knechtschaft der Tyrannei befreit und uns aus der Dunkelheit und der Dekadenz ans Licht geführt. Das Gute, das sie für unser Volk getan haben, hat sich in unseren Köpfen und Herzen
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