Kuehler Grund
gleich, welche Route man auch wählte, ob zu den abgelegenen Höfen im Moor oder zu den Dörfern im nächsten Tal.
Fry war eine gute Autofahrerin, sie hatte bei der Polizei der West Midlands ein spezielles Verfolgungstraining absolviert. Aber DI Hitchens lenkte den Wagen selbst aus der Stadt auf das Hochmoor zu, das Edendale vom nächsten Tal trennte.
»Es ist nur ein Schuh«, sagte Hitchens.
»Ein Turnschuh?«, fragte Fry. »Reebok, Größe 38?«
Der DI sah sie überrascht an.
»Sie haben sich über den Fall Vernon informiert.«
»Ja, Sir.«
»Es war von Anfang an nicht auszuschließen, dass ihr etwas passiert ist, obwohl man das den Eltern natürlich nicht sagen kann. Sie hatte außer Geld nichts bei sich. Bei ihren Freunden und Bekannten haben wir nur Nieten gezogen. Wir müssen wohl damit rechnen, ihre Leiche zu finden.«
»Was ist sie für ein Mädchen?«
»Wohlhabendes Elternhaus, keine Geldsorgen. Ich würde sagen, es hat ihr nie an etwas gefehlt. Sie besucht eine Privatschule, die High Carrs heißt, und hätte nächstes Jahr die Mittlere Reife machen sollen. Sie bekommt Klavierunterricht und hat ein eigenes Pferd, ein Geschenk ihrer Eltern. Es ist in einem Stall außerhalb von Moorhay. Manchmal nimmt sie an Turnieren teil.«
»Im Springreiten?«
»Nehme ich an.«
»Und ist sie in irgendetwas davon gut?«
Hitchens nickte anerkennend. »Wenn Sie die Eltern hören, ist sie in allem perfekt. Studium in Oxford oder Cambridge und später vielleicht noch eine Karriere als Konzertpianistin. Natürlich nur, wenn sie bis dahin bei der Olympiade keine Goldmedaille gewonnen hätte. Bei ihren Freunden hört sich das alles etwas anders an.«
»Jungengeschichten?«
»Natürlich. Was sonst? Mum und Dad streiten es allerdings ab. Sie sagen, dafür hat sie keine Zeit, wegen der Schule und der Reiterei. Aber wir sind schon dabei, die Jungen zu ermitteln.«
»Streit zu Hause? Irgendwelche Auseinandersetzungen?«
»Nichts. Jedenfalls …«
»Jedenfalls nicht, wenn man den Eltern glauben darf?«
»Volltreffer.«
Hitchens lächelte. Fry mochte es, wenn ihre Vorgesetzten lächelten, solange es im Rahmen blieb. Sie betrachtete seine Hände, die auf dem Lenkrad lagen. Kräftige Hände mit sauberen, gepflegten Fingernägeln. Die Nase war im Profil etwas zu groß geraten. Eine so genannte Adlernase. Aber ein Mann konnte sich eine solche Nase leisten – sie verlieh ihm Charakter. Sie warf einen Blick auf seine linke Hand. Kein Ehering, dafür aber eine weiße Narbe, die sich über die mittleren Knöchel dreier Finger zog.
»Die Eltern geben an, Laura sei an dem Nachmittag vor ihrem Verschwinden mit ihrer Mutter einkaufen gewesen«, sagte Hitchens. »Sie waren in Belper, im De Bradelei Centre.«
»Was gibt es da?«
»Ach – Klamotten«, sagte er unbestimmt.
»Dad war nicht mit?«
»Wahrscheinlich hatte er keine Lust. Außerdem haben ihm die beiden Frauen ein Geburtstagsgeschenk gekauft, sie hätten ihn also sowieso nicht mitgenommen. Er ist zu Hause geblieben und hat gearbeitet. Graham Vernon ist Finanzberater und sagt, das Geschäft läuft sehr gut. Die Familie scheint wirklich ziemlich reich zu sein.«
»Und als sie wieder zu Hause waren?«
»Da war es ungefähr halb sechs. Weil es immer noch warm war, hat Laura sich umgezogen und ist ein bisschen in den Garten gegangen. Als sie bis zum Abendessen um halb acht nicht zurück war, bekamen es die Vernons mit der Angst zu tun.«
Fry war beeindruckt, dass er alle Einzelheiten im Kopf hatte und sie mühelos abrufen konnte. Offensichtlich besaß Hitchens die Art von Intelligenz, die heutzutage bei der Polizei hoch im Kurs stand. Viele Beamte hätten die Informationen nicht wiedergeben können, ohne auf ihre Notizen zurückzugreifen.
»Die Eltern geben sich gegenseitig ein Alibi?«
»Ja.«
»Aber sie wurde doch mit einem jungen Mann gesehen, bevor sie verschwand, nicht wahr?«
»Sehr gut, Diane. Ja, wir haben eine Frau ausfindig gemacht, die am Rande des Baulk Blumen gepflückt hat. Sie ist Mitglied des Frauenvereins und hilft bei der Dekoration für ein Brunnenfest in Great Hucklow. Kaum zu glauben, aber es war ihr peinlich, darüber zu reden. Sie dachte, wir würden sie verhaften, weil sie Wildblumen gestohlen hat. Ihre Kinder haben ihr erzählt, so etwas sei eine Umweltsünde. Aber die Dekoration des Brunnens war ihr offenbar so wichtig, dass sie sich vom Pfad der Tugend hat abbringen lassen. Jedenfalls hat sie sich trotzdem gemeldet und Laura Vernon anhand
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