Kuehles Grab
riskieren?
Bobby stieß die Fahrertür auf und sagte kein Wort, als Annabelle ebenfalls ausstieg.
»Detective Sinkus hat Charlie Marvin aufgespürt«, erzählte er auf dem Weg zur Haustür. »Marvin hat die Nacht im Pine Street Inn verbracht – er war von Mitternacht bis acht Uhr dort. Neun Obdachlose und drei Angestellte bestätigen das. Er kann also nicht der Überbringer des Geschenks gewesen sein.«
Annabelle gab nur ein Seufzen von sich. Zweifellos hatte sie Charlie Marvin als idealen Verdächtigen angesehen. Einerseits weil er eine Mischung aus Priester und dem Nikolaus, andererseits weil er nicht ihr Vater war.
Bobby hätte gern gesagt, dass er auch nicht an Russell Grangers Auferstehung von den Toten glaubte. Allerdings wuchs seine Verwirrung von Stunde zu Stunde. Die Unterhaltung mit Mr. Petracelli war eine Lehrstunde in Zwanghaftigkeit und Obsession gewesen. Bobby würde einen Kollegen bitten nachzuforschen, wo sich Mr. Petracelli in der letzten Nacht aufgehalten hatte, aber in Comicstrips verpackte Geschenke waren ein bisschen zu spitzfindig für einen Verrückten wie ihn.
Die Zeichnung ist der Schlüssel, dachte Bobby. Wen hatte Russell Granger im Sinn gehabt, und warum hatte er sich schon zwei Jahre bevor er die erste Anzeige gemacht hatte, bedroht gefühlt?
Schon nach den ersten fünf Minuten bei Walter Petracelli war Bobby klar gewesen, dass Annabelles früherer Nachbar über keine Informationen verfügte, die zur Aufklärung dieses Falles führen könnten. Vielleicht hatte er bei Russells ehemaligem Chef mehr Glück. Schon um sieben Uhr morgens hatte Bobby Annabelles Wohnung kurz verlassen, um Paul Schuepp mit dem Handy anzurufen. Es schien, als würde er in letzter Zeit seinen Job nur noch über Handy erledigen. Dennoch hatte D. D. hinter seinem Rücken agiert und mit dem Gerichtsmediziner gesprochen, um ihre eigene Theorie zu untermauern … Allein bei dem Gedanken daran stieg ihm wieder die Galle hoch.
Sie betätigten den Messingklopfer an der Tür.
Bobbys erster Eindruck von Paul Schuepp: klein und uralt. Der ehemalige Leiter der Mathematikfakultät im MIT hatte spärliches graues Haar, einen mit Altersflecken übersäten Schädel und wässrig blaue Augen unter buschig weißen Brauen. In dem alten, eingefallenen Gesicht fielen die rotumränderten Augenlider, die schlaffen Wangen und die faltigen Hautlappen am Hals besonders auf.
Schuepp streckte eine knorrige Hand aus und packte Bobbys Arm mit erstaunlich festem Griff. »Kommen Sie rein! Freut mich sehr, Sie zu sehen, Detective. Und das ist …?«
Schuepp verstummte abrupt und riss die müden Augen auf. »Ich will verdammt sein, wenn Sie Ihrer Mutter nicht wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Annabelle, stimmt's? Und so erwachsen. Bitte, treten Sie ein! Es ist mir eine Ehre. Ich hole uns einen Kaffee. Oh, zum Teufel, es ist bald Mittag. Ich gieße uns einen Scotch ein!«
Schuepp ging mit schnellen Schritten voran durch die Diele und einen Torbogen in das Wohnzimmer. Durch einen weiteren Torbogen gelangte man ins Esszimmer, von dem rechter Hand die Küche abging.
Bobby und Annabelle folgten ihm. Bobby betrachtete die schweren Möbelstücke, die zarten Häkeldeckchen und die bodenlangen Vorhänge mit den aufgedruckten Eukalyptusgirlanden. Eine Küche im Landhausstil. Auf dem drehbaren Tablett in der Mitte des Tisches standen ein Salzstreuer, eine Zuckerdose und eine ganze Batterie von Medikamenten. Schuepp befüllte die Kaffeemaschine, dann verschwand er in der Speisekammer und kam, nachdem er hörbar mit Gegenständen aus Glas herumhantiert hatte, mit einer Flasche Chivas Regal wieder zum Vorschein.
»Der Kaffee schmeckt wahrscheinlich furchtbar«, erklärte er. »Meine Frau ist letztes Jahr gestorben. Sie konnte einen Kaffee kochen! Ich persönlich«, fügte er hinzu und stellte den Chivas auf den Tisch, »empfehle den Scotch.«
Annabelle ließ den alten Mann nicht aus den Augen. Er holte drei Gläser. Als Annabelle und Bobby ablehnten, zuckte er mit den Achseln, goss für sich zwei Finger breit Whisky ein und kippte ihn mit einem Schluck hinunter. Für einen Moment lief Schuepps Schädel feuerrot an. Er keuchte und hustete, und Bobby hatte die Horrorvorstellung, dass sein Gesprächspartner plötzlich tot umfallen würde, aber der Professor erholte sich rasch wieder und klopfte sich auf die Brust.
»Ich bin kein großer Trinker«, erläuterte er. »Aber bei Gelegenheit kann ich schon einen Schluck vertragen.«
»Wissen Sie,
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