Kuehles Grab
zusammen mit ihr ein kleines Gebet, obschon ich immer ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Ich betrachtete Dori gern, wenn sie betete, ihr feierliches Lächeln.
Jetzt fragte ich mich, ob sie hier unten auch gebetet hatte. Ob sie Gott um ihr Überleben oder um die Gnade des Todes angefleht hatte. Ich hatte das Gefühl, als würde eine Faust mein Herz zusammendrücken. Wie konnte ein Mensch mit einem so großen Schmerz leben, und wie hatten Doris Eltern all die Jahre der Ungewissheit durchgestanden?
In diesem Augenblick war ich glücklich, dass meine Eltern nicht mehr lebten, dass sie nie erfahren hatten, was Dori zugestoßen war.
Doch schon eine Sekunde später verstärkte sich meine Beklommenheit. Etwas regte sich in meinem Bewusstsein …
Mein Vater hatte es gewusst. Er hatte Doris Schicksal gekannt, und diese Erkenntnis jagte mir noch mehr Schauer über den Rücken als dieses unterirdische Grab.
»Wir müssen die Untersuchungsergebnisse der Gerichtsmedizin abwarten, dann wissen wir mehr über die Opfer«, sagte Sergeant Warren.
Ich nickte stumm.
»Es genügt zu sagen, dass wir einen sehr organisierten, extrem intelligenten und skrupellosen Täter suchen.«
Wieder nickte ich.
»Natürlich kann uns alles, woran Sie sich aus dieser Zeit erinnern, weiterhelfen – insbesondere Informationen über den Mann, der Ihr Haus beobachtet hat.«
»Ich würde jetzt gern wieder hinaufgehen«, sagte ich.
Diesmal ging Detective Dodge voran. Oben hielt er mir seine Hand hin, um mir zu helfen. Der Wind hatte aufgefrischt und raschelte im toten Laub. Ich hielt mein Gesicht in die Brise und atmete tief durch. Dann ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich fühlte die Erde aus dem Grab meiner besten Freundin unter den Fingernägeln.
14
Ein Streifenpolizist erwartete uns am Auto. Er zog Sergeant Warren beiseite und unterhielt sich leise mit ihr.
»Wie oft haben Sie ihn gesehen?«, fragte sie scharf.
»Drei- oder viermal.«
»Und wer ist er?«
»Er sagt, er hätte früher hier gearbeitet. Dass er etwas weiß. Aber er will nur mit dem leitenden Ermittler sprechen.«
Warren sah über die Schulter des Cops zu Detective Dodge und mir. »Hast du noch eine Minute?«, fragte sie Bobby.
Er warf einen Blick auf mich. Ich hob die Schultern. »Ich kann ja im Auto warten.«
Das schien die richtige Antwort zu sein. Warren wandte sich wieder an den Streifenpolizisten. »Bringen Sie ihn her! Wenn er unbedingt reden will, hören wir uns an, was er zu sagen hat.«
Ich setzte mich in den Crown Vic – das machte mir nichts aus. Ich wollte nur dem Wind, dem Anblick und den Gerüchen entkommen.
Ich duckte mich auf dem Beifahrersitz und hielt mich im Verborgenen. Als Detective Dodge jedoch auf Warren zuging, öffnete ich das Fenster einen Spalt.
Nach wenigen Minuten kam der Streifenpolizist in Begleitung eines älteren Mannes mit schlohweißem Haar und erstaunlich raschem Gang zurück.
»Mein Name ist Charles«, stellte er sich vor und schüttelte Warren und Dodge die Hand. »Charlie Marvin. In meiner College-Zeit habe ich hier in der Klinik gearbeitet. Danke, dass Sie mit mir reden wollen. Leiten Sie die Untersuchungen?« Er sah Detective Dodge erwartungsvoll an, doch der deutete mit dem Kopf auf Sergeant Warren. »Hoppla!«, rief der Mann und lächelte. »Nehmen Sie's mir nicht übel«, sagte er zu Warren. »Ich bin kein Sexist – nur ein alter Kauz.«
Sie lachte. Ich hatte noch nie Sergeant Warrens Lachen gehört. Es klang fast menschlich.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Marvin.«
»Sagen Sie bitte Charlie. Mr. Marvin lässt mich an meinen Vater denken. Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Was können wir für Sie tun, Charlie?«
»Ich habe von dem Grab und den sechs Mädchen gehört, die hier gefunden wurden. Muss schon sagen, das hat mich richtig erschüttert. Ich habe beinahe ein Jahrzehnt hier oben verbracht – erst als Pfleger, dann als freiwilliger Seelsorger an den Abenden und Wochenenden. Ein halbes Dutzend Mal hätte ich um ein Haar mein Leben verloren, trotzdem war es eine gute Zeit. Mir macht der Gedanke zu schaffen, dass die Mädchen in den Jahren ermordet wurden, in denen auch ich hier war.«
Charlie sah Warren und Dodge erwartungsvoll an, doch niemand sagte ein Wort. Mittlerweile kannte ich ihre Strategie, denn sie hatten dieses Schweigen auch bei mir eingesetzt.
»Nun«, fuhr Charlie munter fort, »ich mag vielleicht ein alter Kauz sein, der nicht mehr weiß, was er zum Frühstück gehabt hat, aber meine
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