Kuehles Grab
Bruder weg waren, umso mehr redete ich mir bis zu einem gewissen Grad ein, Schuld an allem Möglichen zu haben. Die Seelenklempnerin hat mich auf ein paar gute Sachen hingewiesen. Meine Mutter, mein Bruder und ich haben eine ziemlich traumatische Zeit erlebt. Ich hatte das Gefühl, schuld daran zu sein, dass sie weglaufen mussten. Möglicherweise fühlten sie sich schuldig, weil sie mich zurückgelassen haben.«
Annabelle nickte und spielte wieder mit der kleinen Glasphiole an ihrem Hals. »Und welchen Rat hat sie Ihnen gegeben?«
»Gott schenke mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, den Mut, die Dinge loszulassen, die losgelassen werden müssen, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen. Meine Mutter und mein Bruder sind Dinge, die ich nicht ändern kann, also muss ich loslassen.«
Sie kamen zu ihrer Ausfahrt. Er setzte den Blinker.
Annabelle betrachtete ihn nachdenklich. »Und was ist mit den Schüssen? Wie sollen Sie damit umgehen?«
»Täglich acht Stunden Schlaf, gesundes Essen, viel Wasser trinken und maßvoller Sport.«
»Und das funktioniert?«
»Keine Ahnung. Am ersten Abend ging ich in eine Bar und trank fast bis zur Besinnungslosigkeit. Ich will es mal so ausdrücken: Ich arbeite noch daran.«
Endlich lächelte sie. »Ich auch«, gestand sie leise.
Sie sagte nichts mehr, bis Bobby vor ihrem Apartmenthaus hielt. Als sie das Wort wieder ergriff, war ihre Stimme sanfter als sonst. Sie war einfach müde.
»Wann brechen wir morgen auf?«, erkundigte sie sich und legte die Hand auf den Türgriff.
»Ich hole Sie um zehn Uhr ab.«
»Gut.«
»Packen Sie Sachen für eine Übernachtung ein. Wir kümmern uns um Unterkunft und so weiter. Oh, und Annabelle – um an Bord der Maschine zu kommen, brauchen Sie einen gültigen Ausweis mit Lichtbild.«
»Kein Problem.«
Er zog eine Augenbraue hoch, hakte jedoch nicht nach. »Es wird nicht so schlimm werden«, hörte er sich sagen. »Lassen Sie sich nicht von den Zeitungsartikeln ins Bockshorn jagen. Catherine ist eine Frau wie jede andere. Und wir werden nur mit ihr reden.«
»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.« Annabelle stieß die Tür auf und stieg aus. Im letzten Moment drehte sie sich noch einmal zu Bobby um.
»Anfangs«, sagte sie leise, »war ich erleichtert, als ich in der Zeitung las, dass ich für tot erklärt wurde. Das heißt, dass ich mich ein wenig entspannen kann. Wenn ich offiziell tot bin, brauche ich keine Angst mehr zu haben, dass dieser mysteriöse schwarze Mann hinter mir her ist. Mein Tod machte mich fast ein wenig leichtsinnig.« Sie holte tief Luft und sah ihm in die Augen. »Aber so ist es nicht, oder? Sie, Sergeant Warren und ich sind nicht die einzigen, die wissen, dass meine Leiche nicht in diesem Grab war. Doris Mörder weiß auch, dass er meine beste Freundin und nicht mich entführt hat. Er weiß, dass ich noch am Leben bin.«
»Annabelle, es ist fünfundzwanzig Jahre her …«
»Ich bin kein hilfloses kleines Mädchen mehr«, machte sie ihm klar.
»Nein, das sind Sie nicht. Und wir wissen nicht, ob der Täter heute noch aktiv ist. Dieses Erdloch ist seit langem verlassen. Das könnte bedeuten, dass er wegen eines anderen Verbrechens im Gefängnis sitzt oder dass er der Menschheit einen Gefallen getan hat und tot umgefallen ist. Das wissen wir noch nicht.«
»Vielleicht hat er gar nicht aufgehört und ist nur weitergezogen. Meine Familie war ständig auf dem Sprung. Möglich, dass wir deshalb verfolgt wurden.«
Auch darauf hatte Bobby keine Antwort. Zu diesem Zeitpunkt war alles denkbar.
Annabelle schloss die Wagentür. Bobby ließ das Fenster herunter, um alles im Auge zu behalten, während sie zur Haustür ging und den Schlüssel ins Schloss steckte. Möglicherweise wurde er allmählich selbst paranoid, weil er die Straße hinauf- und hinunterspähte und genau aufpasste, ob sich etwas im Schatten bewegte.
Die Haustür ging auf. Annabelle drehte sich um und winkte, betrat das Haus, zog die Tür fest zu. Dann stieß sie die Glastür auf, und das Letzte, was Bobby von ihr sah, war ihr Rücken, als sie die Treppe hinaufging.
16
Bobby kam wieder zu spät zu der Besprechung, und diesmal hatte er kein Gebäck dabei. Die anderen Ermittler waren aber sowieso zu sehr damit beschäftigt, Detective Sinkus zuzuhören, um auf ihn zu achten. Wie versprochen, hatte sich Sinkus mit George Robbards, dem ehemaligen Polizeischreiber und Archivar, getroffen, der von 1972 bis 1998 in Mattapan tätig gewesen war.
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