Kühlfach vier
perversen Beruf, aber selbst zeigst du überhaupt keinen Respekt für die Toten.«
Ich wollte antworten, aber er winkte ab und öffnete die Tür.
»Und für die Lebenden auch nicht.«
Starker Abgang. Wäre es jedenfalls gewesen, wenn er vorher die Hose wieder zugemacht hätte.
Wir hatten offenbar eine Art Waffenstillstand geschlossen, als wir uns auf den Weg machten. Wohin genau wir gingen, will ich
hier nicht näher erläutern, denn ich respektiere den Wunsch nach Anonymität, den die Gruppe, die |119| wir zu befragen gedachten, aus offensichtlichen Gründen hegt. Schön gesagt, oder?
Ich hatte keine weiteren Scherze gemacht und seine offene Hose nicht erwähnt, und er hatte eigentlich überhaupt nichts gesagt.
Immerhin hatte er das Foto von der Toten durch das Zeichenprogramm gejagt, ohne erwischt worden zu sein, und es ein bisschen
retuschiert, so dass er zum Schluss eine ziemlich gute und lebendig wirkende Skizze von ihr hatte.
Wir stiegen in die Ente, deren Fenster immer noch kaputt war, und verließen die gut beleuchteten bürgerlichen Straßen. Martin
schloss das Auto sorgfältig ab, und ich hielt die Klappe. Er sah sich unsicher um, fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut,
überprüfte zum wiederholten Mal, dass er die Blätter mit der Zeichnung von der Frau in der Tasche hatte, und ging los. Ich
hielt mich in der Nähe seiner linken Schulter auf, sah mich aber häufig in alle Richtungen um.
»Alles klar, so weit«, murmelte ich zur Beruhigung.
Er ging auf eine Gruppe von sechs Jugendlichen zu, die zusammenstanden, rauchten und die Straße rauf und runter glotzten.
»Entschuldigung, ähem, guten Abend«, sagte Martin.
Die sechs glotzten ihn jetzt an.
»Ich habe eine Frage an Sie«, sagte Martin.
Immer noch keine Reaktion. Ich schaute mich um, alles ruhig.
»Ich suche eine Frau«, er fummelte in der Tasche nach der Zeichnung.
»Ficken«, sagte einer der Jungs und die anderen lachten.
|120| »Nein, nein«, korrigierte Martin schnell. »Ich habe sie kennengelernt und möchte sie gern wiedersehen.«
»Nicht ficken?«, fragte der Typ wieder. »Wozu dann Frau?«
Martin hatte inzwischen die Zeichnung auseinandergefaltet und zeigte sie herum. Einer der Jungs griff sich an die Eier, als
er auf das Blatt sah, und stöhnte laut. Die anderen lachten wieder.
»Wissen Sie zufällig, wie sie heißt?«
»Du hast sie kennengelernt und weißt nicht, wie sie heißt?«, sagte der Wortführer. »Was habt ihr gemacht?«
Das Grölen wurde lauter. Martin blieb, entgegen meiner Befürchtung, ziemlich cool. Er tat so, als ob die schmierigen Bemerkungen
ihn gar nicht erreichten, obwohl ich Wellen von Ekel aus seiner Richtung empfing. Wenn er meine Späße schon respektlos fand,
dann musste er hier bestimmt gleich kotzen.
»Ich bringe dich zu ihr«, sagte der Anführer. »Gib mir hundert und ich bringe dich sofort zu ihr.«
Ich brauchte keinen Ton zu sagen, die rote Warnlampe in Martins Gehirn leuchtete von ganz alleine auf.
»Ist sie denn jetzt da?«, fragte Martin nach einer Millisekunde, in der ich schon befürchtet hatte, dass er laut zu schreien
anfängt.
»Klar.«
Irgendwie wurde die Situation langsam absurd. Wir suchten eine Frau, von der wir wussten, dass sie im Institut in der Kühltruhe
lag, und dieser Typ erzählte uns, dass er uns zu ihr bringt. Wie erklärte man jetzt, dass man merkte, dass er Kacke laberte,
wenn man nicht sagen durfte, was man wusste? Martin hatte eine prima Idee.
|121| »Könnten Sie das prüfen?«, fragte Martin. »Rufen Sie sie einfach an.«
»Sie ist da«, erwiderte der Typ und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. »Warum glaubst du mir nicht?«
Der drohende Tonfall der letzten Frage gefiel uns beiden nicht, aber Martin hatte zugegebenermaßen den Nachteil, dass er im
Zweifelsfall angreifbar war. Er zuckte innerlich zusammen, riss sich dann aber am Riemen und blieb äußerlich recht locker.
Für seine Verhältnisse, meine ich. Unter dem Dufflecoat war von dem Schlottern zum Glück nicht viel zu sehen.
»Ich habe keine hundert Euro bei mir«, sagte Martin. »Also wäre es doch einfacher, wenn Sie sie anrufen. Dann kann sie sagen,
ob sie mich sehen will oder nicht.«
»Telefon ist so unpersönlich«, sagte der Typ.
Die anderen standen jetzt enger zusammen, eine zwar nicht greifbare, aber spürbare Aggressivität lag in der Luft.
»Geben Sie mir bitte das Bild wieder«, sagte Martin. »Ich glaube, so wird das nichts.«
»So
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