Kühlfach vier
von den Psychos, die da sonst noch herumschwirren,
nur irgendwelche lächerlichen Spitznamen. Das kann dein Nachbar sein, der sich als Serienmörder outet, oder die eigene Mutter,
die dir anbietet, dir einen zu blasen. Das hat alles nichts Menschliches an sich. Man kann sich kein Bild von dem Menschen
machen, der dahintersteht, sondern sieht nur Buchstaben und Zahlen und reagiert mit Mitleid, Wut oder Entsetzen. Und so einer
sollte ich werden? Ein unsichtbarer Geist, der über einen Computerbildschirm kommuniziert? Ich stellte mir vor, wie ich Katrin
Komplimente mache und der Satz »Du hast geile Titten« erscheint. Oder noch besser mit einem kleinen Fehler: »Du hast keine
Tüten.« Hätten Sie da Bock drauf? Eben. Für’s Erste beschloss ich also, mich Martins Computer nicht mehr zu nähern, wenn er
das neue Headset eingeschaltet hatte. Ohne meinen Körper fühlte ich mich scheiße genug, ich wollte nicht auch noch stimm-
und gefühllos als Buchstabensalat enden.
Martin lief irgendwann kurz nach Mittag durchs Haus, um nach mir zu sehen, und das fand ich ausgesprochen nett von ihm. So
sollte es sein. Er kannte noch meinen Körper und er nahm mich als fühlendes, ganzheitliches Wesen wahr – okay, nicht ganz
ganzheitlich, aber immerhin so weit es irgendwie ging. Seine Sorge um mich rührte mich, |178| und das konnte ich ihm direkt mitteilen, ohne dafür einen sorgfältig formulierten Satz in eine Schnittstelle denken zu müssen.
Der Gedanke, dass er nach mir sah, um mich von möglichem Unfug mit meiner neu entdeckten Mitteilungsgabe abzuhalten, kam mir
zwar, ich schob ihn aber schnell wieder weg. Ich brauchte ein bisschen Zuwendung und war fest entschlossen, sie in Martins
Verhalten zu finden. Basta.
Nach Feierabend fuhr Martin nur kurz bei einem Imbiss vorbei, um sich Gemüseburger, Tofubratlinge und bunten Salat zu holen.
So ein Abendessen ist etwas für Meerschweinchen oder Menschen mit künstlichem Darmausgang, aber er spachtelte den Kurfraß
voller Appetit in sich hinein. Ich träumte derweil von einem dicken, fetten Burger, aus dem die Frikadelle, die Soße und die
Zwiebeln an allen Seiten herausquellen, sodass einem der Siff bis zu den Ellbogen in den Ärmel läuft. Geschmäcker sind eben
verschieden.
Das ließ sich auch von Ekaterina Irgendwas sagen, denn in ihrer Wohnung, die offenbar seit dem Krieg nicht mehr renoviert
worden war, stank es nach ranzigem Fett und Kohl. Jede Oberfläche, die Martin mit der Hand berührte, bevor er vorsichtiger
wurde, klebte. Die Frau selbst sah so aus wie jemand eben aussieht, der in so einer Wohnung wohnt. Genauso schmierig und klebrig
wie alles andere in ihrer Umgebung. Perfekte Camouflage, würde man wohl sagen, wenn es sich bei der Frau um ein Chamäleon
und nicht um eine ungefähr hundertjährige Russin, Weißrussin oder Ukrainerin gehandelt hätte – wenn es da Unterschiede gab.
|179| Die Vorstellung, wie sie während der morgendlichen Lektüre des Kölner Stadtanzeigers bei Kaffee und Brötchen das Foto der
Leiche und den Aufruf der Polizei entdeckt hatte, wollte weder bei Martin noch bei mir richtig plastisch werden. Wir brauchten
allerdings gar nicht zu fragen, wie sie auf das Bild gestoßen war, denn als sie die Kühlschranktür öffnete, um Butter zu den
staubtrockenen Keksen auf den Tisch zu stellen, sahen wir die entsprechende Ausgabe der Zeitung. Das schöne Gesicht der Leiche
war um sechs dicke Sardinen gewickelt, deren Köpfe blutig und deren Augen matt waren. Der Gestank nahm Martin den Atem.
»Sie haben der Polizei gesagt, dass Sie die Frau auf dem Foto in der Zeitung erkannt haben«, begann Martin.
»Jaja, alles Polizei gesagt.«
Der Akzent, mit dem sie sprach, war schon schlimm, und die Tatsache, dass sie nur noch einen einzigen Zahn im Mund hatte,
der ziemlich schief im Unterkiefer steckte, machte es nicht besser. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was der Computer
schreiben würde, wenn sie diktierte.
»Ich hätte es gern noch einmal gehört«, sagte Martin.
»Hat hier gewohnt, über mir«, sagte sie.
»Kennen Sie ihren Namen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nix Namen an Tür, nie mir sagen.«
»Haben Sie denn mal mit ihr gesprochen?«, fragte Martin weiter.
Sie nickte. »Guten Tag und so.«
»Sprach sie Deutsch?«
»Kann ja. Muttersprache aber von Balkan oder so.«
»Hat sie allein gewohnt?«
|180| »Jaja, allein. Aber war manchmal Mann da.«
Die zahnlose Alte zwinkerte
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