Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kühlfach vier

Titel: Kühlfach vier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Profijt
Vom Netzwerk:
»Alles klar bei dir?«,
     fragte sie wie nebenbei, aber ihr Tonfall war nicht so entspannt, wie die Frage klingen sollte.
    »Jaja, alles klar«, sagte Martin mit der violetten Einfärbung der kompletten linken Gesichtshälfte und den rot unterlaufenen
     Augen. »Alles bestens.«
    »Gut«, sagte Katrin, goss Milch in ihren Kaffee und verließ die Teeküche.
    »Das hast du davon, dass du mich ignorierst«, sagte ich. »Nimm meine Entschuldigung an und lass uns wieder Freunde sein.«
    Martin reagierte nicht. Langsam wurde ich echt sauer. Was sollte ich noch machen? Ich konnte nicht vor ihm auf die Knie fallen,
     ich konnte keine Spruchbänder über die Autobahnbrücke spannen, ihm kein Bier ausgeben und mich nicht in seinem Namen bei Birgit
     entschuldigen.
    Das Einzige, was ich tun konnte, hatte ich inzwischen stundenlang praktiziert. Ich hatte mich entschuldigt. Noch und nöcher.
     Und trotzdem stellte er sich weiter stur. Er wollte anscheinend keinen Frieden.
    Gut, dann bekam er Krieg.
     
    Martin ging mit einigen Kollegen zu Fuß durchs Treppenhaus hinunter und ich schrie: »Achtung, Stufe fehlt«. Er zögerte mitten
     auf der Treppe, griff erschreckt nach dem Arm des Kollegen neben ihm, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und beide taumelten,
     stürzten aber nicht. Alle starrten ihn an.
    »Äh, ich bin irgendwie umgeknickt«, murmelte Martin.
    |190| Die Kollegen warfen ihm mitleidige oder besorgte Blicke zu und beeilten sich viel zu sehr, zu betonen, dass das ja immer mal
     passieren könnte, als dass es auch nur halbwegs glaubhaft gewesen wäre.
    Er hatte eine Obduktion, in der er das Messer schwang, und als er nach der Leber griff, rief ich: »Nicht anfassen!«. Wieder
     zuckte er zurück, seine Hände zitterten, und der Kollege mit dem Diktiergerät starrte ihn unter gerunzelten Augenbrauen an.
     Er öffnete die Brusthöhle, entnahm das Herz und ich sagte mit der traurigsten Stimme, die ich normalerweise für ganz schlimme
     Fälle reserviere: »Das tut ihm weh.«
    Martin ließ das Herz fallen. Er atmete flach, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er stach das Skalpell in den Oberschenkel
     der Leiche, wo es zitternd stecken blieb. Der Diktierer und der Präparator glotzten ihn fassungslos an. Martin riss sich die
     Maske vom Gesicht, er war weiß wie die Wand, seine Augen glänzten wie im Fieber. Er taumelte zum Herrenklo und brachte das
     zweite Frühstück wieder retour.
    »Lass uns wieder Freunde sein«, sagte ich, als er sich den Mund ausspülte.
    Er ignorierte mich.
    Vor der Tür des Herrenklos stand sein Chef.
    »Jochen hat die Obduktion übernommen«, sagte der Chef und nahm Martin am Arm. »Kommen Sie, wir trinken einen Tee zusammen
     und Sie erzählen mir, was Sie so fertigmacht.«
    Martin nickte. Ich war gespannt.
    Natürlich erzählte Martin nicht, was ihn so fertigmacht. Er schlürfte den Hochland-Darjeeling-Gartentee |191| FTGFOPTGFPFO 1-2-3, den der Chef über einen lizensierten Importeur in einer speziellen Verpackung zu einem besonderen Preis
     bezieht, hörte dem Gelaber über die besonders feinen Spitzen, das Wetter im Himalaya und die Schulbildung der Pflückerinnen
     aber nur mit halber Horchleistung zu. Er war unkonzentriert und der Chef merkte es. »Was ist denn nun los mit Ihnen? Wir kennen
     uns seit zwölf Jahren, aber so habe ich Sie noch nie erlebt.«
    Martin blickte in die Teetasse. »Ich glaube, ich kriege eine Erkältung«, murmelte er.
    »Das mag sein«, erwiderte der Chef, der natürlich auch Mediziner ist. Zwar Leichendoktor, aber irgendwann in ihrer Ausbildung
     haben auch die an Lebenden geübt. Er kannte sich aus, das muss man ihm lassen. Er stellte die beeindruckende Diagnose, dass
     es daran allein aber nicht liegen könne. Die Unkonzentriertheit, die Nervosität, die Geistesabwesenheit. (Geistesabwesenheit
     durch Geisteranwesenheit – haha!) Da müsse doch etwas anderes dahinter stecken.
    »Ich«, rief ich dazwischen, aber das konnte er ja leider nicht hören.
    »Haben Sie private Probleme?«, fragte der Chef.
    Martin zuckte zusammen. »Äh, nein.«
    Gelogen!
    »Haben Sie mit jemandem Streit?«
    Die Frage drängte sich bei Martins Boxerface natürlich auf.
    »Nein«, sagte Martin wieder.
    Wieder gelogen!
    »Glauben Sie, dass Sie Ihre Arbeit weiter vernünftig erledigen können?«
    |192| An dieser Stelle hätte er Nein sagen müssen, aber jetzt sagte er Ja.
    Und wieder gelogen. Das konnte er nicht ernsthaft annehmen. Nicht im Krieg. Ich saß am längeren Hebel, und

Weitere Kostenlose Bücher